by Anna-Lukardis von Egidy » 17 Dec 2014, 11:19
Wenn die kleine Ventrue etwas besaß, dann Ruhe und Geduld. Wenn sie mal sprach, dann redete sie auch gerne viel, aber die Rolle des stillen Zuhörers und Beobachters gefiel ihr am allerbesten. Ohne Eindrücke mit der eigenen Stimme zu vertreiben war es einem möglich, viel mehr aufzunehmen und zu sehen und kleine Details waren nicht unbedingt dazu geschaffen, ihr zu entgehen.
Die Geste, mit welcher Jean über das steinerne Geländer strich, beobachtete Anna ganz genau. Es war aber eher Zufall, dass sie da hin sah, der Blick wurde eben von der Bewegung angelockt und blieb dann darauf haften. Sie sah dann auch erst verzögert zurück in das schöne Gesicht, ein bisschen wie in Zeitlupe, und hörte zu.
Leer. Es waren nur vier Buchstaben und sie bildeten ein so treffendes Wort. Anna nickte verstehend und zustimmend, sie sah das ähnlich. Aber sie empfand die Leere höchstens deshalb, weil sie mit dem Grund für das Denkmal an sich absolut nichts verband.
„Die meisten, die hier her kommen, tun es sicher nur, um ganz oben mal die Nase in den Wind zu halten und nicht, um der Gefallenen zu denken. Es ist sicher wie mit dem Petersdom, den sich viele ansehen, ohne sich dabei besonders christlich zu fühlen. Man geht halt hin, weil es im Reiseführer steht, also kommt man auch hier her, denn man kann ja nicht nach Leipzig reisen, ohne das Völkerschlachtendenkmal gesehen zu haben.“
Ganz natürlich passte sich die hagere Gestalt immer wieder den Bewegungen der Rose an, wobei sie sich nicht an die Toreador klammerte und jeden Schritt nachmachte, sie orientierte sich einfach nur als gute Gesellschafterin danach.
Und sie schwieg, und schwieg und irgendwann zeichnete sich da etwas Versonnenes in ihren Augen ab. Es wirkte eigenartig fröhlich, obwohl da nicht einmal der Ansatz eines Lächelns zu sehen war. Nur der Glanz, der auf einmal die matten Augen mit Leben erfüllte.
„Für mich sind die schönsten Denkmäler die, welche die Natur geschaffen hat. Ganz besonders Steilküsten. Die an der Ostsee verbinde ich mit meiner Kindheit, mit meiner Jugend, mit den ersten Zweifeln an mir selbst, mit Trauer, mit Glück, mit Liebe und Wut.
Stellen Sie sich peitschenden Regen vor, eine aufgewühlte See, Kälte, die ihnen wie mit Nadeln in die Haut sticht. Ihre Kleidung kann sie vor dem Unwetter nicht schützen und der unnachgiebige Wind tut sein Übriges. Nur zwei Schritte trennen sie vor dem schwarzen Abgrund und der Pfad, der vor ihnen liegt, ist aufgeweicht, rutschig und schmal. Auf der anderen Seite rascheln die Weizenfelder und komponieren zusammen mit dem Heulen des Sturms ihr eigenes Lied, welches das aufgewühlte Wasser beantwortet und zu übertönen versucht. Und sie sind mittendrin, drohen bei jedem Schritt herum geworfen zu werden und kommen irgendwann vollkommen erschöpft aber ausgeglichen wie nie zuvor wieder daheim in der Wärme an.“
In all ihrer Nüchternheit gelang es sogar Anna, ins Schwärmen zu geraten.
„Ich könnte niemals über eine Steilküste gehen, ohne genau daran zu denken. Sind also nicht unsere Erinnerungen das eigentliche Denkmal? Das was wir selbst mit einem Ort oder einem Geschehnis verbinden? Wie könnte hier als mehr als Leere auf Sie warten, wenn nicht einmal der Stein selbst Anreiz zu etwas bietet, das Ihnen Freude macht.“
You can't teach an old dogma new tricks.