Es ging noch weiter.
Die Sonne stand vermutlich schon irgendwo ganz weit über ihnen am Firmament, als Jean die Augen wieder öffnete. Es war kühl in dem Raum und so blieb der warme Tag nur ein trügerisches Bild und nicht mehr. Die Schatten waren zuerst sehr lang geworden und waren nun wieder kurz, denn die Häuser, Türme und Gebilde wurden von oben beleuchtet.
Eine andere Seite von Leipzig wurde jetzt gezeigt, nun, da das Licht den Unterschied zu der Nacht gezeigt hatte. Die Natur in und um die Stadt. Tiere, von denen man nicht denken würde, dass sie mitten unter den Menschen lebten, denn eigentlich waren sie doch wild? Ein Fuchs sah einem lange entgegen, dann wurde er schwarz-weiß und die Zeitreise nahm ihren Lauf. Die Bilder bewegten sich jetzt nicht mehr, sie wechselten nur noch und waren irgendwann nur noch schwarz-weiß, irgendwann nur noch Gemälde. Man hatte das Leipzig von heute gesehen, in allen Facetten und aus allen Blickwinkeln belichtet. Mit seinen Menschen, seinen Formen, seiner Schnelllebigkeit. Als müsste man mit der Zukunft auf die Vergangenheit vorbereitet werden?
Anna selbst stand die ganze Zeit unbewegt da. Unbewegt, weil sie sich nicht regte und unbewegt, weil das Gesehene keine Gefühlsstürme in ihr auslöste. Nur dieser eine Moment, in welchem Jean die Augen geschlossen hatte, mischte sich in ihrem Gesicht für ein paar Sekunden lang ein Ausdruck aus beginnender Furcht und dunkler Faszination. Aber so schnell, wie die Sonne aufging, so schnell war dieser Ausdruck auch wieder weg und die Erinnerung dafür zurück, dass man hier doch vor all diesen Dingen sicher war.
Geräusche der Schlacht verdrängten langsam die Musik. Stimmen der Vergangenheit, nachgesprochene Worte bekannter Persönlichkeiten, prägnante Sätze, Namen, die genannt wurden, dann ging die Sonne langsam unter und Wagner wurde von Bartholdy abgelöst, welcher zwar nicht hier geboren war, hier aber immerhin gewirkt hatte.
Sie waren im Jahr 1165, dem Gründungsjahr der Stadt und sahen im Zeitraffer dem Bau der Thomas- und der St.-Nikolaikirche zu. Die moderne Technik machte es möglich, Bilder zu zeigen, die es gar nicht geben konnte. Später wurden sie Zeuge der Gründung der Universität, wurden zum Treffen von Luther, Karlstadt und Melanchthon und Eck eingeladen. Sie beobachteten den Handel, der genauso schnell an ihnen vorüber zog, wie alles andere und sahen dabei besonders viele Pelze. Dann wurde die Reformation eingeführt, Leipzig befand sich zwei Jahre lang im Krieg, das Bürgertum wurde immer wohlhabender. Die Trinkwasserversorgung entstand, Zeitungen wurden gedruckt.
Und wieder Krieg, dieses Mal 30 Jahre lang. Ein belagertes Leipzig, dann eines, das 1701 eine Straßenbeleuchtung bekam. Die Preußen waren da und später fand die Leipzig heute noch prägende Stadt statt, die Völkerschlacht. Doch heute ging es nicht nur um diese allein und so zog die Zeit vor den Augen der beiden Untoten weiter. Eine Fernbahnstrecke wurde eröffnet, das Conservatorium der Musik begründet, die Industrialisierung hielt Einzug und immer weiter wurde gebaut. Der Rest der Geschichte war nur zu bekannt und vielleicht auch noch viel zu präsent?
Die Vorführung, welche wenigstens Anna sichtlich beeindruckte, auch wenn sich das nur daran zeigte, dass ihre matten Augen den Bildern folgten, als würde sie sich kein Detail entgehen lassen wollen, sollte aber nicht mit solchen Bildern enden.
Wieder war es Nacht. Man stand irgendwie wieder am Beginn. Nur dass jetzt ein letztes Bild im Zentrum stand – das neue Rathaus. Wie zwei Vögel umkreisten sie das Gebäude, das den Abschluss dieser Vorführung darstellte, bevor es wieder dunkel wurde in dem Raum, wenn auch nicht still, denn die Musik wurde zwar gedämpft, sie blieb aber da. Wie im Kino gingen die Lichter langsam wieder an, welche die Dunkelheit verdrängten und den bis gerade eben noch durch Bilder belebten Raum zurück in seine ursprüngliche Kälte tauchten.
Das war dann auch der Moment, in welchem Anna endlich wieder zu Jean hinsah. Sie hatte die Toreador nicht beobachten wollen und hatte es auch nicht getan. Aber jetzt, da war ein Blick zu ihr etwas, das sich nicht vermeiden ließ? Fragend war er jedoch nicht, nur abwartend. Vielleicht um abschätzen zu können, ob die Hüterin etwas zu der Vorführung sagen wollte, von welcher Anna gesagt hatte, sie wäre davon besonders beeindruckt gewesen? Oder ob sie ungleicher Meinung waren und nun nur noch die Ausstellung blieb, die abgesehen von dem Panorama noch immer anzusehen wäre?