by Sidonie Mirabeau » 06 Jun 2014, 08:57
Fragen über Fragen – Fragen die nach einer dringenden, vielleicht aber aufgrund ihrer Beschaffenheit, eher schmerzlichen Antwort verlangten. Sind unsere Rollen eine Lüge? Wem lügen wir, wann und wie gut etwas vor? Und können wir bei all den Lügen noch selbst die Wahrheit erkennen oder verlieren wir uns ins unserem eigenen Lügengeflecht? Kann man da überhaupt noch Lächeln? Und wo zur Hölle, bleiben die Freude und der Spaß? Spannende und berechtigte Fragen die einen Untoten sicher stundenlang fesseln konnten, man hatte ja die Ewigkeit Zeit zu lügen und danach zu sortieren. Andere wiederum analysierten ihr Dasein nicht so akribisch und philosophisch, vermutlich weil ihnen die Zeit oder die Muse dazu fehlten. Nein, einige andere, zogen es heute Nacht vor, einfach zu leben und das schallende, hörbar feminine Gelächter das sich ohne Vorankündigung der Brücke und somit den beiden Herrschaften näherte, schleuderte eine pralle, akustische Ladung ungezwungener Fröhlichkeit und hörbarem Spaß durch die laue Nachtluft.
Einen Sekundenbruchteil später gibt es auch im Halbdunkeln ein Bild dazu, als sich eine junge Frau mit schlurfenden, die Stille der Nacht somit unliebsam störenden Lowtop-Sneakers, auf die beiden zu bewegt. Sie trägt grüne Camo-Capris und entsprechende Accessoires, ein paar Ketten und Nieten hier, ein extra breiter Combat-Gürtel dort ein schwarzes, langärmliges Fishnet Oberteil über weißem Tank Top mit dem für manche womöglich sinn machenden, schrillen Aufdruck „Kawaaaiiiii“ in bunten comicartigen Lettern. Ihre Haarfarbe ist nicht gut zu erkennen, die Form dagegen auf jeden Fall – ein verschlungenes Nest aus einer asiatisch anmutenden, zöpfchenartigen Hochsteckfrisur mit kleinen spiralförmigen Löckchen hier und da, die obwohl sie den Chaos-Look gut komplettieren, in ihrer Anordnung dennoch einer Art verqueren Logik folgen. Es wird selbst dem ungeschulten Auge schnell klar, das da jemand Stunden vorm Spiegel verbracht oder richtig tief in die Tasche gegriffen hat.
Ihre Schritte kommen am Rande der Brücke zum Stehen und man möchte meinen sie flegelt sich richtiggehend and das Geländer, stützt sich mit einem Arm locker ab und presst mit der anderen Hand ein schwarz glänzendes Mobiltelefon ans Ohr. Viereckig, groß, scheint durchaus der neuesten menschlichen technischen Errungenschaft an Smartphones zu entsprechen, dazu farblich abgestimmte Fingernägel; an den Handgelenken neon-farbene Plastikarmbänder und eine kleine Armbanduhr, man muss ja mit der Zeit gehen (rennen, laufen, hüpfen). Sie machte den Eindruck als wäre sie zumindest heute Nacht, ein knapper Grenzfall von New-Age Punk gepaart mit Neo-Tokio Clubwear auf dem Weg in einen Szeneclub oder die nächste groß angelegte Party. Mit ihren hellen, beinahe schrillen Klamotten grinst sie in starkem Kontrast zu der sie umgebenen, schwärenden Dunkelheit weiter vor sich hin und kichert und lacht und quatscht offensichtlich ohne rechte Scham oder Rücksicht auf Verluste, angeregt mit jemandem am Telefon.
Ihr Blick der von tief schwarzen Smokey-eyes umrahmt wird, die zusätzlich noch einen anständigen Klecks heller Farbkombination an den Rändern erhalten haben, wandert kurzfristig zu den beiden anderen Brückenokkupanten. Aber nur für eine Sekunde. Die genauere Begutachtung musste wohl warten – das Gespräch war offensichtlich zu wichtig. Ihre Stimme ist hell und angenehm wenn auch schon leicht heiser - man telefoniert wohl nicht erst seit drei Minuten. Das geschulte Ohr hört zudem einen leicht melodisch, französischen Einschlag. Den kriegt sie auch beim schnellen Sprechen und irgendwie sogar beim Lachen nicht weg. Komisch. Ebenfalls komisch warum sie gerade an der Brücke stehen bleibt, die Höflichkeit würde es gebieten andere Personen nicht mit ihrem Getratsche zu stören – was sie scheinbar gekonnt ignoriert.
„Und das hat er echt gesagt? Boah.. aber er hat doch gewusst, dass die am längeren Ast sitzen. Das ganze war doch angemeldet? Ich meine er hätte doch einfach nur ruhig bleiben müssen, es war nicht seine Schuld.“
– Pause, Luft holen –
„Die wissen doch das so was auf seinen Gigs nicht passiert, der hat da doch die totale Antihaltung, das war doch vorher auch nie was, warn doch sicher wieder diese Kiddies die sich übers Wochenende auf Kosten anderer amüsieren wollten.“
– Pause, Augen überdrehen –
„Bußgeld auch noch? Wie viel denn? Eeecht? Pff…Na prima.“
"Die höchste Aufgabe des Menschen ist zu wissen, was einer sein muß, um ein Mensch zu sein."
~Immanuel Kant (1724 - 1804), deutscher Philosoph~