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August 2013 - Salz in meine Wunden, bitte.


August 2013 - Salz in meine Wunden, bitte.

Postby Raphael von Alten-Linsingen » 14 Nov 2013, 22:04

"Raphael Alexander von Alten-Linsingen!" Die weibliche Stimme hallte durch das Gebäude, wie der eiskalter Nordwind durch die Höhlen und Gipfel der kältesten Gebirge heulen mochte. Beim Klang der Stimme ertönte ein dumpfer Missklang von dem schwarzen Flügel, auf dem der Junge kurz zuvor noch gespielt hatte. In einer eiligen Geste sprang er von dem Stuhl auf und eilte sich, nach unten zu kommen. Als er die Treppe erreichte, bremste er sich ab und ging in aufrechter, gerade Körperhaltung und einem angemessenem Tempo nach unten, denn Rennen war im Haus eigentlich verboten. "Frau Mutter, Sie haben gerufen?" Die helle Kinderstimme klang höflich, wenn auch ein bisschen zögerlich, während er die Hände hinter dem Rücken verschränkte und sich ganz gerade hielt, untypisch für ein Kind.
Kalte Augen richteten sich auf ihn, während das schmale Gesicht nun Strenge und Verachtung zeigte, die schlanke Nase leicht kraus gezogen, als stünde nicht ein gepflegtes Kind vor ihr, sondern ein übelriechendes Subjekt aus der untersten Gesellschaftsschicht. Der Blick in den lieblosen Augen konnte einen frösteln machen, doch der Junge stand still und gerade, als merkte er es nicht. "Da bist du ja endlich." Die Stimme klang schneidend. "Dieses.. Kind." Sie suchte nach den richtigen Worten und machte eine abwertende, wedelnde Handbewegung. "Dieser Junge, aus dem Schwimmbad, von dem du geplappert hast." Ihr Tonfall war nicht minder abwertend als ihre Handbewegung, während sie das sagte.

Die Augen des Kindes leuchteten kurz auf. "John?" Euphorie klang aus der hellen Stimme und die ungewöhnlich gerade Haltung des Kindes löste sich auf, als es seine Hände in unbewusster Freude nach vorne nahm. Vor kurzem hatte Raphael in dem Schwimmbad, in dem er einmal die Woche schwimmen ging, endlich einen Spielkameraden gefunden. Er war dort zwar schon beinahe anderthalb Jahre, doch Anschluss zu den anderen Kindern zu finden, fiel ihm äußerst schwer. Die Kinder, mit denen er seine Freizeit verbringen durfte, waren meistens Kinder von Geschäftspartnern seines Vaters und auch oft älter als Raphael. Aber John.. war nett. Er kam aus einer ganz großen Familie und hatte ganz viele Geschwister. Er teilte sich sogar sein Zimmer mit zwei Brüdern und wusste ganz viele tolle Geschichten zu erzählen.
"Ja.. genau. Er wird morgen nicht mit dir spielen." Ein weitere wedelnde Handbewegung. "Und auch an keinem anderem Tag." Die Kinderaugen weiteten sich und der Mund öffnete sich in stillem Protest. "Aber.." Setzte es an, doch die kalten Augen liessen es verstummen. "Dieses Subjekt ist kein angemessener Umgang für dich. Wir entscheiden, mit wem du Umgang pflegen darfst und mit wem nicht. Hast du das verstanden?" Der schneidende Tonfall duldete keine Wiederworte. Ein Schlucken und der Versuch, die Enttäuschung nicht zu zeigen. Raphael wusste, wenn er jetzt weinte, würde es Ärger geben, da man es ihm als Trotz oder als Schwäche ansah. Und beides war bei ihm weder erwünscht noch geduldet. "Ja, Mutter. Wie Sie wollen." Eine linkische Verbeugung, während Tränen, die er nicht weinen durfte, in seinen Augen brannten. "Ich mag jetzt.. also wenn ich darf.." Ein Schlucken, die Stimme leise, halb gebrochen.
"Sprich deutlich, Kind, und lass dieses Nuscheln! Wenn du etwas zu sagen hast, sprich, und wenn nicht, dann schweig, aber dieses Genuschel ist unerträglich! Also?" Wieder ein Schlucken, während der Junge sich die Lippen benetzte. "Wenn ich darf, möchte ich weiter Klavier spielen üben." Er spielte gern Klavier. Es war ein bisschen Abwechslung zu den Dingen, die er sonst tun durfte und da er seit etwas mehr als zwei Jahren spielte, durfte er jetzt sogar schon schwierigeres spielen. Und er spielte es viel lieber als Geige, die viel schwerer war und bei der er kaum etwas halbwegs vernünftiges spielen konnte.

Der Mund der blonden Frau bildete jedoch erneut einen schmalen, missbilligenden Strich. "Ich komme mit und werde mir anhören, wie gut du bist. Und dann spielst du mir etwas auf der Geige vor. Das letzte Mal klang wirklich grauenhaft und ich frage mich allmählich, warum wir überhaupt so gute Lehrer bezahlen, wenn du so unfähig bist." Ein Schnauben und eine erneute abwertende Handbewegung. "Deswegen denke ich auch, dass es besser ist, wenn du die nächsten zwei Wochen überhaupt keine anderen Kinder triffst und lieber spielst. In zwei Monaten ist der Wettbewerb." Die Augen funkelten ihn an, voller Verachtung und mit der Wärme eines Gletschers. "Du weißt, dass wir von dir verlangen, dass du gewinnst, Raphael? Und du willst uns doch nicht enttäuschen, oder? Immerhin haben wir alles dafür getan, damit du gut bist, nicht wahr?" Der Junge schluckte und senkte den Kopf. "Ja, Mutter." Er drehte sich um und ging die Treppe hinauf, ganz gerade, in seiner schwarzen Jeans mit einem weißen Hemd und einem dunkelblauen Pullunder, der eine hübsche Stickerei an der Brust hatte, die braunen Locken ordentlich um den Kopf herum drapiert. Und er wusste, dass er sich ganz schlimm verspielen würde. Das tat er immer, wenn ihr kalter Blick auf seinen Fingern lag, dann wurden seine Finger ganz ungeschickt und stolperten übereinander. Und dann würde er Ärger bekommen. Und keinen Nachtisch. Und wenn sie ganz unzufrieden war, würde sie ihm seine Zinnsoldaten abnehmen, damit sie ihm nicht vom üben ab hielten.
Raphael war jetzt fünf. Aber bald.. bald war er groß. Bald war er sechs und dann durfte er zur Schule, so wie die Kinder, mit denen er manchmal spielen durfte. Und dann würde er ganz viel lernen. Und bei dem Wettbewerb würde er sich auch viel Mühe geben, für ein weiteres hübsches Ding in der Vitrine. Und wenn Freunde seiner Eltern kamen, dann würde man ihm wieder über die Haare streicheln und seine Mutter würde Lächeln, wie sie ganz selten lächelte, und ihn loben, und sein Vater würde dröhnend lachen und ihm auf die Schulter klopfen. Daran dachte er, während er ganz tapfer versuchte nicht zu weinen, während er sich auf den Klavierhocker setzte und seine kleinen Hände auf die Tasten legte.
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Raphael von Alten-Linsingen
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