Kalt war es. Kalt und dunkel. Nun zumindest letzteres war nicht weiter verwunderlich, denn augenblicklich herrschte die tiefe Schwärze einer sternenklaren Nacht, die zusammen mit den eisigen Winden der Küstenregion, jegliches Tauwasser innerhalb weniger Stunden wieder zu spiegelglattem Eis gefror. Das ärgerte die vielen, fleißig ihrer Arbeit nachgehenden Angestellten und Pendler, die trotz der mittlerweile freigeräumten Straßen und Wege, immer noch dicke Mäntel und festes Schuhwerk tragen mussten. Wer Geld hatte, ließ lieber das Geld für sich arbeiten und genoss die wohlige Wärme, einer Smartphone-gesteuerten Zentralheizung. Der eine oder andere besaß sogar eine hauseigene Sauna mit Whirlpool. Das war Central. In der West Town, musste man immerhin noch pünktlich im Büro erscheinen und seinen Gehaltsscheck abholen, damit einem das Feiertagsbier so richtig munden durfte. Und in den Slums… nun, da hatte man entweder genug Leute umgebracht um sich an winterfester Kleidung zu erfreuen oder man starb einen langsamen, qualvollen Tod. Nicht das es irgendjemanden wirklich interessiert hätte, schließlich hatte die Stadt für eine solide Mauer aus bruchfestem Stahlbeton, Stacheldraht und Glasscherben gesorgt. Das Elend blieb vor der Tür, hinter einem massiv emporragenden, blickdichten Sichtschutz. Sehr europäisch und heutzutage wieder durchaus en vogue. Aus den Augen aus dem Sinn. Dafür gab es buntes Licht, wenn auch künstlich. Immerhin.
Auch sie war heute Abend hier um zu sehen und zu beobachten. Eine kleine Ansammlung von bunt zusammengewürfelten Menschen, die sich auf einer großen gefrorenen Fläche Wasser vergnügten und mit Schlittschuhen an den Füßen, unablässig größere und kleinere Runden drehten. Die größeren Plätze dieser Art, welche meistens eine ganz Flut an Wintersportbegeisterten bedienten und mit überteuerten Getränken versorgten, konnte man sich in diesem Teil der Stadt nicht leisten. Klein war hier alles, klein und überschaubar. Deshalb war es auch leistbar für die Sprösslinge der allmählich schwindenden Mittelschicht, die hier hauptsächlich anzutreffen waren. Teenager in sauberer Kleidung und dem letzten bisschen Hoffnung auf eine bessere Zukunft; den Blick gen Central gerichtet. Hier war die Welt irgendwie noch in Ordnung. Es gab ein paar Sitzbänke und einen Hotdog-Stand, eine kleine Hütte aus Holz, die den mutigen Enthusiasten für ein geringes Entgelt, die notwendige Ausrüstung leihweise zur Verfügung stellte und sogar eine passable Soundanlage, die das Bedürfnis nach musikalischer Zerstreuung zufriedenstellte. Hie und da hatte man kleine Stehtische mit Heizstrahlern, in Form von hohen Lampengebilden aufgestellt und buntes Licht aus kraftvollen Flutlichtern, zauberte ein farbiges Miasma auf die spiegelnde Oberfläche. Gelegentlich wurden verstohlen die ersten zarten Küsse ausgetauscht oder heimlich Zigarette geraucht. Wahrscheinlich hatten die einen oder anderen sogar was ‚anständiges‘ zu rauchen dabei aber da hätte man sich wohl nur um das idyllische Gesamtbild betrogen gefühlt.
Die junge Frau in der dicken Winterjacke stand am Rande des Geschehens, die Hände tief in den Taschen vergraben und beobachtete die Bewegungen der Läufer auf dem Eis. Um Hals und Mund, wickelte sich ein dicker Wollschal, der ihr bis an die Nasenspitze reichte. Heute trug man zudem auch ein hübsches Mützchen mitsamt Bommel. Bitterlich kalt war es und die Farbe ihrer Haut, mochte jener des frisch gefallenen Schnees beinahe gleichen. Kalt und bleich. Vielleicht eine beginnende Grippe? Dann würde man ihr vielleicht bald diesen köstlich-heißen Früchtetee am Verkaufsstand empfehlen wollen aber momentan erweckte sie so gar nicht den Anschein, als würde sie sich demnächst von dort wegbewegen wollen. Ihre Augen sind halb geöffnet und sehen in müder Trance auf das Eis. Nachdenklich wirkt sie, nachdenklich und vielleicht ein klein wenig… betrübt. Sicher der Schnupfen. Frische Luft tat ja immer gut und weckte die Lebensgeister.
Ihr Kopf drehte sich leicht in die Richtung eines sich küssenden Liebespaares. Sie beobachtet. Schweigsam und in sich gekehrt. Als ob sie versuchen würde zu verstehen, wie es sich anfühlen mochte. So etwas... was immer es war.
[Tune: Thinking...]