by Munir Andara » 16 Jun 2016, 23:19
Im Gesicht des Anführers breitete sich ein Grinsen aus. Er ließ den Baseballschläger in seiner Hand wirbeln. So wie es aussah, wusste er durchaus, was er tat und hatte ihn nicht zum ersten Mal in seiner Hand. Als er ihre Worte hörte, intensivierte sich das Grinsen ein wenig.
„Du hast uns doch nicht provoziert. Und selbstverständlich lassen wir dich in Ruhe, einer armen Frau etwas anzutun, würden wir doch nicht übers Herz bringen.“
Dabei schüttelte er seinen Kopf, wohl als Bestätigung auf seine Worte. Dabei wich die Erregung nicht aus seinen Augen, die nun ihren Körper musterten und deutlich länger auf einigen Körperpartien verweilten, als es als sittlich bezeichnet werden konnte. Aber wann verhielt sich eine Begebenheit in den Slums einmal so, wie es ein Pendant in höheren Gesellschaftsschichten tun würde? Hinter dem Jungen lachten seine Gefährten, es war ein rauhes Lachen. Irgendwie seltsam, gar nicht so jugendlich, wie sie aussahen, gar nicht so unschuldig.
„Holt ihn euch.“
Zwei, die den Abschluss in der Gruppe bildeten, lösten sich und gingen dem Mann mit fremden Schritten hinterher. Dabei gaben sie sich keinerlei Mühe, leise zu sein, so konnte der Verfolgte nicht anders, als ihre Schritte zu hören. Er drehte sich einmal kurz zu ihnen um und in seinen Augen stand Angst geschrieben. Sein Kopf drehte sich wieder ruckhaft nach vorne und er fing an zu rennen. Seine Schritte waren deutlich zu hören, selbst für sie, die ihren Blick nicht auf ihn fokussiert hielt, konnte dadurch die Situation gut rekonstruieren. Nach nur vier Schritten des Mannes waren weitere zu hören, die mit deutlich kürzeren Pausen auf den verfallenen Asphalt prasselten. Doch das rückte für sie in den Hintergrund, Zentrum ihrer gesamten Wahrnehmung bildete der offensichtliche Anführer unter ihnen mit seinen drei Schergen, die sich hinter ihm weit gefächert auf der Straße verteilten und unterschiedliche Ziele anzugehen schienen. Auch wenn die Ziele dieser Wege allesamt gefährlich nahe bei ihr lagen.
Als sie ihren Blick von den Aggressoren wandte, sah sie zwei Frauen, einen älteren Mann und einen anderen jungen Mann, der in etwa so alt zu sein schien wie sie selbst. Kurz brandete Empörung in ihr hoch, heiß und gefährlich, das wusste sie, hatte sie sie doch schon mehrmals in brenzlige Situationen gebracht, sie hatte jedoch nie einen wirklich effektiven Weg gefunden, ihr Herz unbeteiligt werden zu lassen, sie konnte einfach nicht wegschauen, wenn einfachen- und vor allem unschuldigen- Menschen etwas angetan wurde. Doch schnell wurde sie sich ihrer eigenen Situation wieder bewusst, versuchte ruhig zu bleiben, sich zu konzentrieren. Das war das wichtigste, was sie jetzt zu tun hatte. Um selbst zu überleben und andere schützen zu können. Als sie- sie war sich sicher, sie hatte nur wenige Sekunden die nächsten Passanten gemustert- wieder zu dem baseballschwingenden Rüpel schaute, war dieser nur noch wenige Meter von ihr selbst entfernt. Er ging gerade an dem alten Mann vorbei, der sich versuchte klein zu machen und die Streitigkeiten zu ignorieren. Um möglichst wenig aufzufallen drückte er sich gegen die Hauswand, hielt den Blick auf seine uralten Schuhe gerichtet, und bewegte sich vorsichtig von dem Anderen weg. Als dieser ihn passiert hatte, sein Blick war noch immer auf sie gerichtet, hörte sie den Alten mit einem leichten Röcheln aufatmen, sie spürte regelrecht seine Erleichterung.
In diesem Moment drehte sich der Bewaffnete ansatzlos um und schlug ihm mit einem beidhändig geführten Hieb gegen den unteren Rücken. Das Geräusch, als das Holz mit Wucht das Fleisch traf, traf sie selbst in ihrem Inneren, sie empfand Mitleid mit ihm, das sich noch steigerte, als sie ein widerliches Knacken hörte. Sie zuckte kurz zusammen, hatte sich jedoch relativ schnell wieder gefangen, zumindest äußerlich. Es bereitete ihr nur noch eine verräterische Gänsehaut, obwohl sie es schon mehrmals gehört hatte. Man gewöhnte sich wohl nie vollends daran. Oder hatte sie sich das Knacken nur eingebildet? Ganz sicher war sie sich dabei nicht, immerhin ging alles sehr schnell und es war ein ähnliches Geräusch wie der eigentliche Schlag gewesen. Vielleicht war es ja auch etwas von der Waffe gewesen, hoffte sie. Der alte Mann jedenfalls rührte sich nicht mehr, gab nur noch ein Stöhnen von sich, ziemlich leise, es wurde für sie zu einem Hintergrundgeräusch.
Der Junge drehte sich ihr wieder langsam zu; die Erregung, die zuvor nur in seinen Augen gesessen hatte, bildete nun auch einen Teil seines Grinsens, es ließ ihn irgendwie irre erscheinen. Ihre Knöchel traten weiß hervor, so fest, wie sie den Griff ihres Messers umfangen hielt. Aber noch immer hielt sie es für besser, das Messer hinter ihrem Arm zu verbergen. Sie hatte gelernt, dass das Überraschungsmoment häufig dafür sorgen konnte, in Momenten wie diesen relativ unbeschadet davonzukommen. Er näherte sich ihr langsam. Fühlte sich wohl überlegen, dachte sie. Schon jetzt, als sie noch zwei Meter voneinander trennten, sah sie, wie sich seine Nasenlöcher blähten, als er ihren Geruch in sich sog. Auch wenn sie sich viel in den Slums aufhielt, war für Geübte doch ein Unterschied zu den meisten Slumbewohnern auszumachen. Diese Nuance eines Unterschieds ließ sein Grinsen noch etwas breiter werden. Mit drei schnellen Schritten überbrückte er die kurze Distanz, die sie noch getrennt hatte. Seine freie linke Hand strich über ihre Wange nach unten, in Richtung ihres Halses. Als sich seine Hand um diesen schloss konnte sie ihren Ekel und ihre Wut nicht mehr zurückhalten, riss das Messer hervor und rammte es ihm in seinen Bauch. Sah, wie seine Augen groß wurden, sah die Ungläubigkeit in ihnen. Seine Hand fiel von ihrem Gesicht, als wäre jede Kraft aus ihr gewichen, sie presste sich auf die Wunde in seinem Bauch, die den schmutzigen Stoff rasch rot färbte. Langsam wanderte sein Blick zu der Hand, die den Schnitt verdeckte, dann wieder zu ihr hoch.
„Blöde Schlampe!“, zischte er, bevor er in die Knie ging. Sein Kinn legte sich auf seine Brust. Auf seine Atmung achtete sie nicht, es interessierte sie nicht, ob er überlebte oder nicht, sie wollte nur weg von hier. Mit einem schnellen Blick sah sie nach den Anderen, die sich ihr mittlerweile näherten. Es hatte wohl doch einige Sekunden länger gedauert, als sie geglaubt hatte, einer der Jugendlichen war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt, ein anderer noch etwas mehr. Sie wuchtete den Körper des Verletzten in die Höhe und schubste ihn dem ihr am nächsten entgegen, als Hinderniss, das ihn aufhalten sollte, wenigstens für eine kurze Zeit.
Als sie sich von ihm abwandte und wegdrehte, um schnell das Weite zu suchen, Moment, waren es nicht dre- fühlte sie einen heißen Schmerz, als ihr Wangenknochen unter der Wucht eines harten Schlages brach. Blut breitete sich in ihrem Mund aus, ihr wurde kurz schwarz vor den Augen. Ein weiterer Schlag, der ihr Ohr traf, folgte; Orientierungslosigkeit breitete sich in ihr aus. Diesen Moment nutzte ihr Angreifer, um sie mit weiteren Schlägen einzudecken. Als sie zu Boden ging, rollte sie sich zusammen, um so ihre empfindlichen Stellen besser schützen zu können. Den Schmerz nahm sie nicht mehr wahr, ihr Bewusstsein distanzierte sich von dem, was gerade mit ihrem Körper geschah und eine kalte Schwärze umschloss sie.
Sie wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war.
Sie wusste nur, dass etwas anders war als zuvor.
Die Kälte war nicht mehr allzu kalt, ihr Bewusstsein meldete sich wieder. Leider. Denn mit ihm kamen auch die Schmerzen wieder, ihr Körper meldete sich wieder. Sie wollte schreien, ihren Schmerz der Welt kundtun, alles in ihrem Körper drängte sie danach, doch es war keine Kraft mehr in ihrem Körper, sie schien hinausgeflossen zu sein. So konnte sie nur still liegen bleiben und warten. Vielleicht würde die Kraft ja irgendwann vollends aus ihr hinausfließen und damit die Schmerzen beenden. In dem Moment, in dem sich diese Gedanken träge in ihrem Kopf bildeten drückte etwas gegen ihre Lippen. Zunächst war es kalt, dann spürte sie aber, wie etwas warmes aus diesem.. Ding hinauslief, sie schmeckte etwas flüssiges, seltsam wunderbares in ihrem trockenen Mund. Überrascht öffnete sie die Augen. Sie sah in das Gesicht eines Fremden- oder war es ein Bekannter? Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihre Gedanken kreisten nur langsam- wie er ihr sein Handgelenk?! auf den Mund presste. Sie wollte den Mund vor- war das Blut, das sie schmeckte? Es musste doch Blut sein, oder etwa nicht?- der Flüssigkeit verschließen. Doch sie konnte es nicht, sie wollte es auch nicht, schmeckte es doch so gut, fühlte sich so kostbar an, fachte ihre fast erloschene Glut wieder an, es wärmte sie jedoch nicht wie es sie zuvor gewärmt hatte. Dennoch trank sie und spürte, wie das Gefühl wieder in ihren Körper zurückkam- wieso war er so kalt? Wieso war- wieso zog er seinen Arm weg? Sie wollte doch trinken, sie musste doch trinken, es schmeckte so gut!
Er blieb aber in ihrer Nähe, saß direkt neben ihr und wartete scheinbar auf etwas- nur auf was? Und wieso war ihr so kalt?
So many and so various laws are giv’n;
So many laws argue so many sins
-John Milton, Paradise Lost