Ort: American Tango Institute
Zeit: 10:00 p.m.
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Ein gewöhnlicher Abend in einer gewöhnlichen Stadt, zumindest dann wenn einem die gesellschaftlichen Verhältnisse Chicagos mittlerweile als unveränderliche Realität in Fleisch und Blut übergegangen waren. Früher berichteten die großen Nachrichtensender vom nahen Osten, Hungernot in Afrika und Bandenkriegen in Mexico. Zuerst war man entsetzt, dann verwundert, gelegentlich diskutierte man mit anderen darüber. Aber nach und nach wurden selbst diese Gräuel Alltag; viel zu weit weg und viel zu unpersönlich, als das man noch etwas dabei empfinden könnte. Die Araber hatten Öl, die Amerikaner protzten mit dem Militär und die Europäer versuchten sich in einer diplomatischen Vermittlerposition. In Chicago war es nicht anders. Die Reichen vergnügten sich in der Hochsicherheitszone der Innenstadt, feierten berauschende Fest und schwelgten in ihrem dekadenten Wohlstand, die Mittelschicht arbeitete sich den Rücken krumm und der ganze klägliche Rest, vegetierte hinter meterhohen Betonwällen in den Slums dahin. Nebenbei war ein Großteil der urbanen Gebiete zerstört und eine tödliche Seuche ging durchs Land. Das war irgendwann die Realität geworden, mit der sich der Einzelne abgefunden hatte.
Trotzdem ging das Leben weiter. Viel hatte sich verändert, vieles war gänzlich anders geworden sowohl für die Sterblichen, als auch für die Untoten, während andere Dinge nach wie vor wie ganz selbstverständlich passierten. Unbeeindruckt von Zeit und Raum. Am Wochenende ging man ins Kino, gelegentlich kaufte man sich was bei einer Fast-Food Kette und manchmal ging man auch tanzen. Ein Stück ‚Normalität‘ in einer Welt, die sich gerade erst von einer grässlichen Verkettung mehrerer Katastrophen erholt hatte. Tanzen, das war Ausdruck, Gefühl, verführerische Intensität und Körperbeherrschung in einem. Neben Taktgefühl und Liebe zur Musik, brauchte man dazu aber selbstredend auch die solide Beherrschung der richtigen Tanzschritte. Es sei denn man wollte sich wie die pubertierende Jugend mit einigen ungelenken Bewegungen in der Disko über Wasser halten. Der professionelle Tänzer hätte darüber sicher nur müde gelächelt. Clara hingegen lächelte nicht, denn sie konnte ganz offensichtlich nicht sonderlich gut tanzen aber immerhin war sie lernwillig. Anders konnte man es sich nicht erklären, das die hübsche Dame eines Nachts tatsächlich in einem luxuriösen, strahlend roten Kleid und passendem Schuhwerk, im ‚American Tango Institute‘ saß und auf ihren Privatlehrer bzw. ihre Privatlehrerin wartete. So genau war das nicht vereinbart worden, allerdings hatte sie schon telefonisch zu verstehen gegeben, dass dieses Detail recht nebensächlich für sie war.
Sehr wohl aber hatte man sich nach recht kurzer Beratschlagung dazu entschlossen, den ‚Tango-Anfängerkurs‘ zu buchen und da ihr die dazu notwendigen finanziellen Mittel offenbar großzügig zur Verfügung standen, waren es kurzerhand Privatstunden geworden. Wer wollte schon auf andere Rücksicht nehmen und wertvolle Zeit verschwenden, wenn man sich der Aufmerksamkeit seines Lehrers zu jedem Zeitpunkt sicher sein konnte? Auf jeden Fall war ihr das als durchaus sinnvoll erschienen und wer sich ihre Garderobe genau besah, hätte mit kundigem Blick zweifelsfrei festgestellt, dass sie sich mit der Frage: ‚Was trage ich bei einem Tango?‘, eingehend beschäftigt hatte. Weder Kleid noch Schuhe, kamen von der Stange sondern von einem fachkundigen Ausstatter für Tanzbedarf. Was wiederum nicht bedeutete, dass Clara sich da besonders aus kannte aber offensichtlich dennoch wusste, wie man sich ordentlich auf etwas vorbereitete. Selbst wenn sie nicht tanzen konnte und in ihrem unschlüssigen Blick, immer wieder der Zweifel lag, ob sie sich mit diesen Absätzen nicht ohnehin sämtliche Knochen brechen würde. Gehen meinetwegen aber tanzen? Ohne wirkliche Vorkenntnisse? Jeder fing einmal klein an und so entfernte sie, mangels anderer sinnvoller Betätigung, gelegentlich den einen oder anderen Fussel von ihrem Kleid und sah sich etwas nervös um. Sterbliche Frauen liebten es zu tanzen… sie würde es ganz sicher auch lieben. Ohne sich dabei zu blamieren oder hinzufallen… ganz sicher… hoffentlich… wahrscheinlich… bitte…