[Juni 2015] Der erste Moment nach Gehenna


[Juni 2015] Der erste Moment nach Gehenna

Postby Lou Cifer » 10 Jun 2015, 18:38

Papier, vielleicht ein Pappkarton. Was es auch war, es war auf jeden Fall schon seit einer ganzen Weile feucht und moderte langsam, aber stetig vor sich hin. Verströmte dabei ein für die Nase unangenehmes Gemisch aus Schimmelgeruch und abgestandener Kellerluft. Das und Schweiß. Angstschweiß.

Lange nach dieser Feststellung nahm das Gehör ein Hämmern und Pfeifen wahr. Es musste aus der näheren Umgebung kommen. Dumpf und unnachgiebig und irgendwie schmerzvoll für das eigene Ohr. Und je länger sie darauf hörte, desto höher wurde der Ton, desto weniger dumpf wurde das Geräusch, das Pfeifen selbst irgendwann nur noch ein Nachhall rund um das Trommelfell. Es kam nicht aus der Umgebung. Es kam aus ihrem pochenden Schädel, welcher zu explodieren drohte, als sie es endlich wagte, sich aufzurichten. Und zusammen zuckte. Der ganze Körper fühlte sich an, als wäre er durch den Fleischwolf gedreht worden. Sie spürte jeden einzelnen Knochen, jede einzelne Sehne, sämtliche Fasern von Kopf bis Fuß.

Sie roch. Sie hörte. Sie fühlte.

Nur sehen konnte sie nichts.


“Hallo …?“ fragte sie in die Dunkelheit hinaus und war weniger überrascht darüber, dass sie keine Antwort erhielt, als darüber, dass ihre Stimme zu einem gebrochenen Kratzen verkommen war. Ein paar Mal räusperte sie sich, dann wurde es langsam besser.

Ihre Finger befühlten den eigenen Körper. Trotz der Schmerzen, welche sich im Brustkorb sammeln und dort fröhlich und für immer und ewig weiter zu pochen drohten, schien er in Ordnung zu sein. Zumindest spürte sie kein Blut. Keine verkrusteten Stellen. Dafür kalten, rauen Stein, als die Hände den Boden abtasteten. Pappe, auf welcher sie lag und welche ihr die kurze Erheiterung des Rechthabens verschaffte. Dann Glas, in unzählige Scherben zerbrochen. Holz. Ein abgebrochenes Stuhlbein oder so etwas, rund, spitz an der Bruchstelle. Irgendwas, das sich anfühlte wie Fell, das vermutlich aber einfach nur eine riesige Ansammlung von Staub und Spinnweben war.

Eine gefühlte Unendlichkeit später hatte sie endlich eine Tür und mit ihr einen Lichtschalter ertastet und diesen betätigt zu haben, bereute sie sofort. Es war, als würden sich nicht nur die Pupillen, sondern direkt das ganze Auge zusammen ziehen und erkennen konnte sie erst etwas, nachdem sie die Augen mit beiden Händen ordentlich gerieben hatte.

Ein Keller. Regale, vollgestellt mit Vorräten. Unzählige Dosen mit literweise Suppe, Ravioli, Spaghetti, Eintöpfen und all der Scheiße, die mit köstlich aussehenden Etiketten lockte. Dazu ein paar leere Kästen Bier, Wasserflaschen für den Spender und Müll so weit das Auge reichte.

Die Tür war nicht verschlossen. Irgendwas in ihr wollte wissen, wie spät es war. Sie hatte eine Uhr – stehengeblieben, das Glas gebrochen. Ein nutzloses Ding, das zu dem restlichen Müll im Keller flog.

Die Treppe hoch zu steigen stellte sich als neue Herausforderung dar. Wie ein Kind, das so etwas noch nie alleine gemacht hatte, kämpfte sie sich Stufe für Stufe empor und ächzte ob der Anstrengung, welche dies für ihren gebeutelten Körper bedeutete, einige Male laut auf. Und dann lachte sie – weil es einfach nicht wahr sein konnte, wie sie sich hier gerade anstellte. Ehe sie wieder ächzte und endlich das Ende der Treppe erreichte.

Sie war in einem Laden. Was für ein Laden das war, konnte sie auf den ersten Blick gar nicht sagen. Jedenfalls nichts, das mit Getränken, Lebensmitteln oder Kleidung zu tun hatte. In den Regalen hing haufenweise Plunder, das meiste davon kam ihr so unnütz vor, dass sie nicht glauben wollte, dass das jemand tatsächlich kaufte. Dann sah sie die vielen Elektrogeräte, machte darüber sogar eine funktionierende Wanduhr auf und war in Bezug auf die Uhrzeit zwar klüger, glücklicher mit der Situation an sich jedoch trotzdem nicht.

Irgendwo im Hintergrund schepperte etwas und ein Fluch war zu hören. Ein Mann. Hörte sich schon etwas älter an. War er auch, wie sie ein paar Momente später sah, als er an ihr vorbei stapfte. So, als hätte er das schon tausende Male gemacht und nicht gerade zum ersten Mal.
“Scheiße, Lou! Jetzt sieh Dir diese Sauerei an.“ sagte er völlig neben sich stehend und starrte aus einem der vergitterten Ladenfenster hinaus. Draußen brannte die Luft – direkt vor dem Laden hatte es anscheinend mehrere Unfälle auf einmal gegeben. Genau genommen waren es die Fahrzeuge, welche brannten. Und ein paar der Menschen.

Ungeachtet der Murmeleien des Mannes wandte sie sich der Ladentür zu und zog diese auf. Es bimmelte über ihrem Kopf. Noch einmal, als die Tür wieder zuging.

Rauch füllte die Lungen all jener, welche jetzt noch auf der Straße und ungünstig im Wind standen. Sie sah, wie ein paar Meter weiter jemand vor ihr würgte, sich mit beiden Händen an die Kehle griff und dann auf alle Viere ging, Geräusche von sich gebend, welche man vielleicht noch als hässliches Glucksen bezeichnen konnte. Schreie. So viele von ihnen, dass sie sich das dumpfe Gehör zurück wünschte. Chaotische Geräusche, von denen sie kaum etwas zuordnen konnte. Krach um sie herum und über dem Ganzen eine Stille, welche sie erschaudern ließ.

Genauso wie das gestörte Lachen, welches sie aus einem Häusereingang ein paar Schritte weiter hörte.

Obwohl alles in ihr verlangte, dass sie zurück in den Laden ging, machten ihre Füße, was sie wollten und lenkten sie zu dem Häusereingang. Die Wand war aus Stein und sah aus wie brauner Marmor. Dazu eine kleine Stufe, die in die Höhle hinein führte, welche Klingelschilder und Briefkästen beherbergte. Eine Glastür, durch welche man nicht hinein sehen konnte, dahinter Dunkelheit und davor ein Mann, welcher mit dem Rücken daran gelehnt auf dem Boden saß. Er aß etwas … kaute darauf herum wie ein Hund auf einem Stück Pansen. Lachte bei jedem Bissen, den es ihm herunter zu schlucken gelang und war über seine Mahlzeit gebeugt wie ein Urzeitmensch, welcher seine Beute nicht teilen wollte. Erst als er ihre Füße – genauer gesagt ihre Stiefelspitzen – vor sich sah. Hörte er auf zu kichern und schob hörbar einen Bissen in seiner Mundhöhle hin und her.

Ohne sie anzusehen hob er seine Hand ein Stück an und bot ihr so, wie es aussah, einen Teil seines Essens an. Eine undefinierbare, rotbraune Pratsche, die sie nichts, was sie kannte, zuordnen konnte. Jedenfalls war es das – bis er sein Gesicht anhob.

Er sah ihren Blick und lachte wieder sein lautes, kicherndes, schluckendes Lachen und warf ihr seine Mahlzeit entgegen. Sie versuchte, dem Stück Fleisch auszuweichen, doch es platschte gegen ihre Hose und rutschte dann auf den Boden. Blieb da liegen und hinterließ in ihrer Erinnerung eine Pfütze aus Ekel und Abscheu.


“Iss, Kind. ISS!“ brüllte er ihr mit hasserfüllter Stimme entgegen und griff sich mit blutverschmierten Händen in das zerfledderte Gesicht, um das nächste Stück Haut … das nächste Stück Fleisch aus seiner verbrannten Wange zu reißen. Ein Geräusch, das nicht dazu bestimmt war, jemals vergessen zu werden. “Morgen gibt’s nichts mehr! Also iss!“ brüllte er weiter und lachte ihr von Wahnsinn verzerrt hinter her, als sie kopflos von ihm wegrannte.

Sie stieß gegen ein Auto, das nicht mehr brannte und der sich auflösende Rauch gab den kleinen Körper eines Kindes Preis, zusammen gerollt auf dem Rücksitz, alleine gelassen. Weiter weg schrie eine Frau unter den Fäusten zweier Männer auf. Fensterscheiben splitterten und Menschen rannten mit vollgepackten Armen voller sinnloser Dinge umher. Ein Mann erschlug den anderen wegen einer Zahnbürste. Um sie herum nur Chaos, das der Verwirrung gefolgt war. Keine Sirenen. Keine Ordnung. Nur diese alles auffressende Stille, die von oben herab auf das Szenario sah.

Sie war in der Hölle.

Und es gab nur einen, der ihr vielleicht sagen konnte, was passiert war.
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Lou Cifer
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