[Juni 15] Der erste Moment nach Gehenna


[Juni 15] Der erste Moment nach Gehenna

Postby Iva Sekyravic » 10 Jun 2015, 13:11

Gustav Mahler Piano Quartet in a-minor.
Das sind die Klänge mit denen ich erwache. Dem Lärm, den mein Denken verursacht komme ich mit Musik bei. Am liebsten laut.
Meine Finger suchen im Dunklen den Lichtschalter und betätigen ihn, doch nichts geschieht. Stromausfälle kommen hier immer wieder vor. Das Handy tut es auch. Licht tut es auch. Netzt nicht. Es sind drei Anrufe drauf. Zwei von meinem Chef..wenn man so will. Einer von Christian.
Es ist viel zu spät... mitten in der Nacht.
Am Boden liegt mein Arztkittel.
Ich lege das Handy beiseite um mich im Bad von den Überresten der letzten Arbeit zu befreien.
Aber heute funktioniert auch das Wasser nicht.
Diese Umstände schränken meine tägliche Routine ein und ein leiser Ärger beginnt mich zu erfüllen. Entsprechend erhöhe ich die Lautstärke des Mp3 Players und während ich die elektrischen Rolläden nach oben fahren lassen, schwillt die Symphonie an und offenbart mir bei dem Blick aus dem Fenster im 16 Stockwerk eine Stadt in Flammen. Auf den Straßen herrscht Chaos. Ich sehe zig Unfälle. Leiber auf dem Asphalt, die sich nicht bewegen. Es gibt kaum erleuchtete Fenster. In einer Millionen Stadt wie dieser hier ist das mehr als ungewöhnlich.
Während Mahler sich redlich bemüht mein Denken singular zu halten, plane ich bereits meine nächsten Schritte. Es gibt viel für mich zu tun. Ein Chaos von diesem Ausmaß erfordert meine ganze Kreativität. Während ich meinen Rucksack mit dem notwendigsten packe ohne dabei in Hektik zu verfallen bemerke ich, dass etwas Allgegenwärtiges fehlt und das ist der erste Moment in dem mich Unsicherheit befällt. Etwas ist maßgeblich anders. Etwas das nicht unter meiner Kontrolle liegt. Dennoch folge ich meinem Plan, werfe mir meinen Kittel über und verlasse nebst dem Rucksack meine Wohnung.
Trotz der lauten Musik vernehme ich Geschrei. Manche Türen stehen offen. Die Wohnunge sind leer. Der Fahrstuhl funktioniert nicht. Auf der Treppe liegt ein älterer Mann, der offenbar gestürzt ist, ich halte inne und suche nach seinem Puls. Erfolglos. Und so lasse ich ihn hinter mir zurück.

Es ist ein seltsam erhebendes Gefühl von Violinen erfüllt auf einer Straße zu stehen in der ganz offensichtlich der Krieg ausgebrochen ist. Alles wirkt wie im Film. Blutverschmierte Hände. Schmerzverzerrte Gesichter. Kinder die ängstlich Obhut suchen und verzweifelte Menschen, die sich um ihre Liebsten kümmern.

Mittlerweile haben sich einige Fragen angesammelt, deren Beantwortung ich bis auf weiteres auf einen andere Zeitpunkt verlegen muss. Im Augenblick hält mich Grübeln nur auf und bringt mich nicht weiter. Meine Schritte schon. Sie sollen mich zu meinem Arbeitsplatz führen..an fahren ist nicht zu denken....doch schon in der nächsten Gasse ist meine Vorankommen beendet.. Ein Ausländer mit deutlich dunklerer Hautfarbe als der Meinen schreit mich auf mexikanisch an, ich solle ihm meinen Rucksack geben. Mein Geld.
Ich antworte ihm in seiner Sprache, dass das nicht passieren wird.
Er zieht ein Messer. Menschen, die glauben nichts verlieren zu können tragen ein gewisses Gefahrenpotential in sich. Grundsätzlich.
Ich bin keine sonderlich aggressive Person, das liegt überwiegend daran, dass ich keine sonderlich emotionale Person bin. Natürlich bestätigen Ausnahmen die Regel. Der Mexikaner packt mich am Schlawittchen und hält mir das Messer an den Hals. Es ist so, dass eine Frau meines Gewichts und meiner Haarfarbe von unterdurchschnittlich wenig Männern als körperliche Gefahr wahrgenommen wird. Das ist bisweilen enivierend.
Dabei Bedarf es keiner großen Kraft um Schaden anzurichten. Es ist nur eine Frage des Wies und des Wos. Meine Ausbildung verschafft mir diesbezüglich einige Vorteile.
Ein Mensch mit gebrochenem Nasenbein sieht nichts, weil der Tränenkanal durch den Schmerz gereizt wird und sinnlos Tränen in die Augen schießen lässst.
Ein Mensch mit verschobenem Kehlkopf atmet nicht, weil die Luftröhre direkt durch diesen hindurch führt und sich der Querschnitt durch eine Verschiebung im Knickbereich in einem Maße verringert, das keine aussreichende Atmung mehr sicherstellt.
Ein Mensch mit eingetretenem Knie steht nicht oder nicht mehr lang, das ist ein Statik Problem dem ich mich nicht genau gewidmet habe, aber ich darf aus Erfahrung berichten, dass dem so ist.
Meine Finger legen sich um das Handgelenk, mit welchem er mir das Messer an die Kehle legt, um den durchweg unangenehmen Punkt zu verhindern, dass er es mir unter die Haut schiebt.
Dann geht’s recht schnell.
Ein Schuss fällt und ich bemerke einen Schmerz in meinem linken Schultergelenk.
Irgendwo explodiert irgendwas.
Sirenen, die näher kommen.
Ich töte den Mann, der mich bedroht hat, weil alles andere zu lange dauert und wende mich dann um, um dem Schützen zu Nahe zu treten. Eine Gang läuft plötzlich die Gasse lang. Geschrei. Da ich nicht beiseite gehe, werde ich angerempelt. Die Situation entgleitet mir, warum genau weiß ich nicht. Es...ist auch etwas, dass in mir passiert...als würden essentielles Lebensbahnen bei lebendigem Leibe aus mir rausgerissen. Ich sehe Dinge, von denen ich denke, dass sie nicht hier sind, weil ich sie mir nicht logisch erklären kann. Schimären. Halluzinationen. Die Welt um mich herum eskaliert. Mahler fährt fort. Ich breche zusammen.
Dann weiß ich nichts mehr, bis ich auf Christians Couch aufwache. Mit meinem Rucksack.
User avatar
Iva Sekyravic
 
Posts: 64
Joined: 05 May 2015, 20:23

Return to Board index

Return to Monatsthemen

Who is online

Users browsing this forum: No registered users and 3 guests