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[Juni 2016]Die Normalität ...

PostPosted: 03 Jun 2016, 10:56
by Oliver
"Die Normalität ist eine gepflasterte Straße; man kann gut darauf gehen - doch es wachsen keine Blumen auf ihr."
Vincent van Gogh


Ich bin Künstler. Sage ich und lächle dabei leicht. Wem ich das erzähle? Natürlich dir du Dummerchen, ich führe ja keine Selbstgespräche, ich bin schließlich kein Verrückter. Obwohl ich Doktor der Psychologie bin. Kurz schweige ich, um den kleinen Witz etwas wirken zu lassen, bevor ich noch anfüge. Der Seelenkunde. Es klingt so schön. Darum sage ich es. Wie ich schon erwähnte, ich bin aber auch ein Künstler und ich mag schöne Dinge. Ob meine Kunst menschliche Hirne in einem Glas sind? Nein, meine Kunst ist die gewaltige Pracht der Farben von Emotionen und um diesen Reichtum an Farben in meinen Kunstwerken zur Vollendung zu bringen bedarf es einiger Vorbereitung.

Wer ich bin? Das geht dich in Zeiten wie diesen nichts an. Aber vielleicht kennt man mich noch aus einer der Großstädte von Amerika? Oder aus Deutschland, Hamburg zum Beispiel, oder von den Geschichten einer Gangrel aus Leipzig? Nein? Nun umso besser, dann bist du gänzlich frei in deiner Meinung. Ich lächle leicht und lehne mich in meinem bequemen Ohrensessel zurück. Ich liebe dieses Möbelstück, es ist einfach perfekt, als wäre er nur für meine Person hergestellt worden. Ach ja… wurde er ja auch … jetzt bin ich das Dummerchen.

Also, ich bin Künstler und mit meiner Kunst geht eine Menge Vorbereitung einher. Genau wie bei meinem jetzigen Kunstwerk. Es hat mich Jahre gekostet. Ich möchte, dass du mich begleitest und es dir anschaust, die Perfektion der von Emotionen aufgeladenen Farben einer Aura. Alles beginnt damit eine Leinwand zu finden. In diesem Fall ist es Anna. Ja, Anna ist meine Leinwand. Schau, dieses dickliche Mädchen, Achtzehn Jahre alt, schon immer etwas unattraktiv und mit kurzen Haaren. Ich sehe in deinem Blick, wie du sie bereits abstempelst, dir ein Vorurteil bildest.

Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem Grinsen als du leicht ertappt in mein Gesicht siehst … herrlich … das leichte Aufflackern der Farbe unter deiner oberflächlich zur Schau getragenen Ruhe. Kurz merke ich wie die Verzückung mich droht davon zu treiben … zurück … zur Kunst. Anna ist die perfekte Leinwand. Die Verhältnisse in denen sie aufgewachsen ist, beschreibt man am besten mit desaströs, weit weg von der Normalität anderer Kinder. Ihr Vater ist ein Trinker, einer der Sorte die betrunken gewalttätig werden und eigentlich ist er immer betrunken. Die Mutter ist eine Frau mit vielen Liebhabern und sie nahm Anna immer häufiger mit zu ihnen. Es folgten Trennungen und Versöhnungen der Eltern, Umzüge, Schulwechsel … meine Bild nahm Gestalt an.

Leider wurde die Behörde aktiv und Anna kam in ein Pflegeheim, sie veränderte sich, mein Bild veränderte sich. Es kann einen Künstler schon in die Verzweiflung treiben, wenn das gewünschte ausbleibt. Es dauerte ein weiteres Jahr, bis ich die passende Pflegemutter gefunden hatte und Anna sich wieder in die von mir gewollte Richtung entwickelte. In der Schule wurde die schon seit ihrer Kindheit dicke Anna fleißig gehänselt und es fehlte ihr an allem, was einen Menschen mit Halt im Leben erfüllt. Elterliche Liebe, Zuneigung, Freundschaften und Fürsorge. Das alleine macht noch kein Kunstwerk, es sei den man erfreut sich an der Farbe einer Depression. Ich zucke leicht mit den Schultern. Also brachte ich April mit ins Spiel.

April ist eine Schulfreundin von Anna und sie ist das genaue Gegenteil von ihr. Anna fast 1,80 Meter groß, um die 150 Kilogramm schwer, ungepflegt und kurze Haare auf der einen Seite und April mit ihren knapp 1,60, zart, hübsch und aus gefestigten Verhältnissen auf der anderen. April und Anna verliebten sich, natürlich half ich etwas nach. Aber es klappte, seit einem Jahr waren sie also jetzt schon ein Paar und Anna erfährt das erste Mal in ihrem Leben Liebe und Zuneigung. Nein nein, du musst dich gedulden! Auch jetzt ist das Bild noch nicht vollendet. Happy end und so … ich gebe einen abwertenden Laut von mir. Die Farbe wahrer Liebe kann schon kräftig und die daraus resultierende Emotion gewaltig sein, aber bist du wirklich so leicht zufrieden zu stellen?

Mein Lächeln verschiebt sich zu einem Grinsen. Ich begann also April das klassische Bild in den Kopf zu pflanzen. Ein Eigenheim, mit Hund, Kindern, Garten und … einen Mann. Ein Lebensmodel in dem kein Platz für Anna ist und die Trennung fand natürlich … Tadaaa … am Valentinstag statt. Ich erwarte natürlich … nicht… dass du wegen dieser kleinen Teufelei in tosenden Beifall ausbrichst … für so ein leichtes Gemüt halte ich dich nicht. Es geht immer noch ein bisschen mehr. Anna ist also am Boden zerstört, darüber helfen auch Aprils Bemühungen nicht hinweg noch Freundinnen zu bleiben.

Jetzt erst sind wir im finalen Akt.

Anna befindet sich in einer ausweglosen Situation und es ist ein leichtes für mich sie dort zu halten, ihr Gedanken ins Ohr zu flüstern, für die sie so empfänglich ist. Ja, aus wahrer Liebe entwickelt es sich … der Hass, die Wut, der Zorn … resultierend daraus erneut zurück gewiesen worden zu sein… Wir folgen Anna durch die Nacht, wie zwei unsichtbare Schatten in der Dunkelheit und die Gedanken in Annas Kopf sind für mich so klar. Durch den Nebel des Alkohols ziehe ich die Gefühle und Emotionen nach vorne, die ich will, wie ich sie will … hier noch ein klein wenig mehr und davon ein bisschen. Ich bin ganz in meinem Element, mein Kunstwerk neigt sich der Vollendung. Ich bin nun nicht mehr nur die kleine Stimme auf Annas Schulter, die ihr Dinge in ihr Ohr flüstert … nein, ich bin direkt in ihrem Kopf…

Ja, der Alkohol ist schon gut Anna. Er macht dich noch zugänglicher mir gegenüber. Nimm noch ein wenig mehr. Sie hat dich böswillig verlassen und hat selber Schuld was nun passieren wird. Anna, vergiss das Küchenmesser nicht. Hörst du… steck es in deine Tasche… ja, so ist es gut. Braves Mädchen. Der Schmerz den sie dir zugefügt hat, so ungerecht, alte Wunden hat sie wieder aufgerissen. Ein Mann will sie und Kinder. Du bist nicht gut genug für ihre Vorstellung von einem gefestigten Leben. Nicht gut genug Anna. Du warst nie gut genug. Sie soll leiden wie du leidest ... und danach, danach wird alles wieder ... normal ... Anna umklammert den Messergriff so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß werden. April ist unser Ziel … wer auch sonst? Wir haben eingeladen, gelockt der alten Zeiten wegen … wie eine Freundin … ja.

Es dauert … eine Stunde lang, eine Stunde in der April immer wieder um ihr Leben fleht, aber Anna einfach immer weiter macht. Eine Stunde, 53 Messerstiche, unzählige Tritte und Schläge, Würgemale sowie Hämatome später … so viele unterschiedliche Emotionen … die Farben der beiden sind jetzt schon grandios, wie sie tanzen und verschwimmen … aber das Beste, das kommt immer zum Schluss ... Mit dem letzten Röcheln aus Aprils Lunge, dem Blut welches aus ihrer Nase läuft, ihre verdrehten Augen, da reift die Erkenntnis in Anna und mein Bild … mein Kunstwerk vollendet sich … Anna lässt die blutverklebte Klinge fallen und Tränen rinnen über ihre vor Anstrengung geröteten Wangen. In ihrem Kopf wo eben noch der Zorn und die Wut die Herrschaft hatten, versteht sie nun, dass sie es selber war, die durch ihre Tat sich den einzigen Menschen beraubt hat, den sie niemals verlieren wollte … der sie jemals wirklich geliebt hat …

Re: [Juni 2016]Die Normalität ...

PostPosted: 05 Jun 2016, 21:23
by Rafael
"Normal? Was ist das?"

Er sieht mich an; ich versuche, meine Enttäuschung zu verbergen. Kann er nicht einmal eine Frage ganz einfach und direkt beantworten? Muss er immer mit einer Gegenfrage antworten und eine philosophische Abhandlung daraus gestalten? Kann er seinen Titel nicht einfach mal in der Arbeit lassen und mit mir nicht wie mit einem seiner Studenten reden.

Ich sehe das vergnügte Funkeln in seinen Augen, natürlich meint er, meine Gedanken erkennen zu können und meistens liegt er auch richtig. Macht's nicht eben einfacher, mit ihm auszukommen. Aber was soll's, er ist vieles, aber sicherlich nicht niederträchtig. Zumindest nicht zu mir.

Ich mache etwas, dass ihn ärgern wird, aber gerade eben ist mir danach. Ich zucke die Schultern und verweigere die Antwort. Ich stelle mich nicht dumm, sondern zeige damit meinen Unwillen. Vielleicht hilft's ja dieses Mal.

"Es bedeutet meistens, der gesellschaftlichen Norm angepasst zu sein. Wobei Gesellschaft nicht die komplette Gesellschaft umfassen muss, sondern auch ein Milieu, oder auch Untermilieu bis zur Kleinstgruppe..."

Naja, war einen Versuch wert. Ich versuche interessiert auszusehen, verdammt, meistens ist das, was der alte Knacker zu sagen, sogar interessant, aber ich wollte doch einfach nur 'ne Antwort auf meine - Moment, was war das?

"... natürlich durchaus gerechtfertigt. Nichtsdestotrotz sollte man nicht...


"Entschuldigung, was war das Letzte?"

"Ähm, wie bitte?

"Das Letzte, der letzte Satz, gerade eben."

"Der letzte Satz? Ging um die Entwicklung der Norm aus der Vergangenheit und der daraus erfolgenden Definition des Abnormalen. Ein Romanist, Verzeihung, Jurist, aber auch ein Theologe, würde die jetzigen Normen aus der Vergangenheit ableiten. Damit wäre nebenbei schnell zu beweisen, was für einen Einfluss die Religion, aber erst recht die Kirche, auf die heutige Rechtsprechung ausübt.

"Gut. Das heißt also, abgekürzt, eine Sünde gälte automatisch als abnorm?"

"Milieubezogen, ja."

"Was aber, wenn etwas als Sünde gilt, aber nicht gegen geltendes Recht verstößt?"

"Normen sind ein integraler Bestandteil der Kultur, tiefgreifender und unmittelbarer als ein Gesetz. Nimm ein aktuelles Beispiel: Steuerhinterziehung gilt als die Norm, solange man sie nicht als Diebstahl deklariert. Das ist ja auch das Unvermögen der Regierung, ein Unrechtsbewusstsein für ebendiese Tat zu erwirken."

"Verstehe ich. Aber was er getan hat, ist doch ein Verbrechen."

"Nein, ist es nicht. Zumindest nicht aus seiner Sicht und auch nicht aus der Sicht des Gesetzgebers, der ihm erstmal Beeinflussung und Einflüsterung, nenne es ruhig Gedankenkontrolle, nachweisen müsste und dann mit einem passenden, wenn überhaupt existenten, Paragraphen zur Ahndung ausschreiben müsste, was überhaupt schon die Anerkennung desselben bedeuten würde, wozu die Menschen heutzutage noch nicht in der Lage sind."

"Er geht also straffrei aus, weil er dem Gesetz und seiner eigenen Vorstellung nach normal ist?"

"Was wirfst du ihm vor?"

"Vergewaltigung. Soziophatie, Psychopathie, Androphagie. Sicherlich noch ein paar mehr."

"Das ist jetzt eine beschränkte Sicht, basierend auf deinem eigenen, kulturellen Verständnis."

"Das mag ja sein, aber es ist - es ist falsch. Er, verdammt, er sieht sich als Künstler und dabei ist er doch nur einfach..."

"Anders. Und ja, er sieht sich als Künstler und diese benötigen ein Publikum. Immer. Und genau wegen dieser Eitelkeit kommt man ihnen immer auf die Schliche. Die Frage ist dann nur, was man mit ihnen tut. Behandeln, wegsperren, bestrafen kann man sie fast nicht, denn dies erfordert Einsicht, und die wird jemand wie er eher nicht erlangen können."

Ich kann einen Seufzer unterdrücken. Er ist so selbstgefällig in seinem Wissen. Aber nicht so widerwärtig wie dieser - dieses Ding.

"Nicht bestrafen? Aber, wie kann man so etwas einfach auf sich beruhen lassen? Das ist, das ist ungerecht!"

"Ah, Gerechtigkeit. Strafe ist das eine, aber Gerechtigkeit? Ja, Gerechtigkeit ist das andere. Und da wo wir nicht strafen können, können wir vielleicht für Gerechtigkeit sorgen."

"Aha, und wie?"

"Oh, das ist einfach. Mit ihr. Drei Zentner, sechs Fuß. Ihr Zorn ist gegen sie selber gerichtet, aber wenn man ihren Zorn auf ihn lenken kann, ihr ein paar Jahre Zeit und Unterstützung gibt, du weißt, Übung, was denkst du, kann sie erreichen? Motivation ist das wichtigste Element, und es gibt nur zwei wichtige Gefühle in dieser Hinsicht, Liebe und Hass."

"Sie? Das ist nicht dein Ernst, oder?"

"Wir greifen nicht direkt ein. Aber wir nutzen Mittel. Und Mittel sind - so viel nützlicher als viele denken."

"Warte. Dir geht es gar nicht darum, ihn zu bestrafen. Du willst nur ein Werkzeug, dass du gegen ihn einsetzen kannst, oder?"

"Nein, ich will ihn gerne seiner gerechten Strafe teilhaftig werden lassen, aber ich sehe nichts darin, daraus einen Nutzen für mich zu finden."

"Na gut, was soll ich tun?

"Sehen. Lernen. Das Übliche."

Das ist auch normal. Er nervt.