Morgen...die kommende Nacht, mein Tag, wird mich führen, wird mir mein Ende, mein Schicksal, mein Anfang, wird meins.
Ich halte das Gedichtbuch in den Händen und ohne es auf zu schlagen weiß ich um den Inhalt, die Worte, so schöne Worte, die man nicht einfach vor sich hin sagen kann ohne gefangen zu werden von deren Dichte, deren Bildern, Vergangenheit und Zukunft. Alles schwingt, alles lebt zwischen diesen Buchstaben.
In dem Jetzt, diesem immer neuen flüchtigen Moment bin ich schwebend. Versuche mich weiter zu erinnern.
Kermanschah...Persien für 10 Jahre und alles in das dichte dunkle Grau meines Vergessens gehüllt. Dann Istanbul...die alte Holzvilla, Marmor, Mosaiken, der Park, das Ehrenfriedhof der Marine, das Matrosenhaus, die Kapelle, Gedenkstätten, Skulpturen...der stahlblaue Himmel und das schäumende Meer. Licht...Sonne, so hell.
Alles so wach, so da, auch jetzt noch. Die ersten Liebesfunken...das fremde Mädchen, das zu einem der Ihren wird, nach und nach...Stiche. Süße, schmerzvolle, erhebende Stiche. Eine Frau die reift, Bilder die sich fest setzen, Abenteuer ohne jegliche Besorgnis. Leben in vollen Zügen, leben im Jetzt. Gerüche...Jasmin, Pfeffer, Frühlingszwiebeln, Raki...Gesang...Geschmack...Rausch...Diskussionen...
Und....mein Glaube, der mich in die Berge versetzt, das Altai Gebirge. Etwas Altes, das nicht sterben wird, weil es das Leben selbst ist. Das Leben, das Wasser, die Erde, die Luft, die Seelen und der Klang kleiner silberner Glocken und der Klang kleiner nackter Füße. Der Glaube daran etwas verändern zu können...oder in dem Versuch zu vergehen.
Und dann er...ein blasses Gesicht voller Narben, pechschwarz glänzend der Bart, schmal die Oberlippe...hell und wach, die Augen eines alten Tieres. Roh, voller brutaler Kälte, Gefahr...Anziehung. Schmerz.
Ich lege das Buch aus meiner Hand. Es ist, als ob etwas in mir sagt, das ich nicht an ihn denken kann und zugleich dieses Buch halten kann. So ein großer Widerspruch. Tag und Nacht...Leben und Tot.
Und jetzt, wo ich mich an den Anfang meines Todes gedacht habe, den Anfang meines zweiten Seins...fühle ich erneut den Zorn in mir. Gegen ihn, Yaniceri...der Kriegersklave...der Gefallene...ein Rest aus älteren Nächten. Vielleicht war er ein Verräter, vielleicht wurde er verraten...oder beides. Er ist der Vernichtung entkommen, der Säuberung, dem 'Wohltätigen Ereignis' des Sultans, dem großen Feuer ...ich bin mir fast sicher, nur weil er die Seinen verraten hat. Und er ist Verbannt worden, weil er dann Mahmud, seinen Sultan, seinen Herren verraten hat. Doch...was...was hat er getan? Ich möchte....so gerne möchte ich daran glauben, das es der Versuch war, der Drang war, seine Fesseln zu lösen. So gerne möchte ich diesen Kreis zwischen ihn und mir.
Ich will, einem träumenden Kind gleich, das alles gut wird. Ich will, das alles einen Sinn hat, erklärbar ist. Und auch wenn ich weiß, das weder das Gute noch die Schönheit greifbar sind, nicht in der Nacht, will ich darauf Hoffen. Ich will darauf bauen, das ich die schwarze Pest, die in mir haust bezwingen kann. Ich will Ashina sein, die Erste eines neuen Clans, die Überlebende, der erste Samen gezeugt von einer Wölfin. Ich will den alten Glauben in mir tragen, obwohl sie meinem Sein widerspricht...denn das bin ich, das war ich und das werde ich immer sein.
Ich will den ewigen Kreis.
Und in der kommenden Nacht werde ich einen weiteren Umlauf vollenden. Wie damals, als ich im Gottesurteil mein Sein erkämpft habe, werde ich um mich kämpfen. Diesmal in einer anderen Arena, diesmal wird ein anderer Alter mit müden Augen mich streifen und soviel wie ein Sandkorn in der Wüste werde ich ihm wert sein. Doch kämpfe ich nicht für ihn. Und vielleicht ist das dann der zweite Kreis der sich schließt. Ja, ich will es glauben. Yaniceri, mein Erzeuger, hat in seinem Inneren auch nie für Mahmud gekämpft. Das brachte ihm seine hundert Jahre Verdammnis, das brachte mir meine hundert Jahre Gefängnis und zwischen all dem Schmerz, machte es mich zu Ashina...denn nur wer seine Ketten liebt, sie nicht verlieren mag.
Die Möglichkeit meine Ketten zu lieben, hat mein Erzeuger mir nie gelassen.
Jetzt bin ich ruhig.
Jetzt habe ich verstanden und will glauben, was ich verstehe.