[April 2016] Alte Bekannte?


[April 2016] Alte Bekannte?

Postby Ashina » 18 Apr 2016, 14:44

Morgen...die kommende Nacht, mein Tag, wird mich führen, wird mir mein Ende, mein Schicksal, mein Anfang, wird meins.

Ich halte das Gedichtbuch in den Händen und ohne es auf zu schlagen weiß ich um den Inhalt, die Worte, so schöne Worte, die man nicht einfach vor sich hin sagen kann ohne gefangen zu werden von deren Dichte, deren Bildern, Vergangenheit und Zukunft. Alles schwingt, alles lebt zwischen diesen Buchstaben.

In dem Jetzt, diesem immer neuen flüchtigen Moment bin ich schwebend. Versuche mich weiter zu erinnern.

Kermanschah...Persien für 10 Jahre und alles in das dichte dunkle Grau meines Vergessens gehüllt. Dann Istanbul...die alte Holzvilla, Marmor, Mosaiken, der Park, das Ehrenfriedhof der Marine, das Matrosenhaus, die Kapelle, Gedenkstätten, Skulpturen...der stahlblaue Himmel und das schäumende Meer. Licht...Sonne, so hell.

Alles so wach, so da, auch jetzt noch. Die ersten Liebesfunken...das fremde Mädchen, das zu einem der Ihren wird, nach und nach...Stiche. Süße, schmerzvolle, erhebende Stiche. Eine Frau die reift, Bilder die sich fest setzen, Abenteuer ohne jegliche Besorgnis. Leben in vollen Zügen, leben im Jetzt. Gerüche...Jasmin, Pfeffer, Frühlingszwiebeln, Raki...Gesang...Geschmack...Rausch...Diskussionen...

Und....mein Glaube, der mich in die Berge versetzt, das Altai Gebirge. Etwas Altes, das nicht sterben wird, weil es das Leben selbst ist. Das Leben, das Wasser, die Erde, die Luft, die Seelen und der Klang kleiner silberner Glocken und der Klang kleiner nackter Füße. Der Glaube daran etwas verändern zu können...oder in dem Versuch zu vergehen.

Und dann er...ein blasses Gesicht voller Narben, pechschwarz glänzend der Bart, schmal die Oberlippe...hell und wach, die Augen eines alten Tieres. Roh, voller brutaler Kälte, Gefahr...Anziehung. Schmerz.

Ich lege das Buch aus meiner Hand. Es ist, als ob etwas in mir sagt, das ich nicht an ihn denken kann und zugleich dieses Buch halten kann. So ein großer Widerspruch. Tag und Nacht...Leben und Tot.

Und jetzt, wo ich mich an den Anfang meines Todes gedacht habe, den Anfang meines zweiten Seins...fühle ich erneut den Zorn in mir. Gegen ihn, Yaniceri...der Kriegersklave...der Gefallene...ein Rest aus älteren Nächten. Vielleicht war er ein Verräter, vielleicht wurde er verraten...oder beides. Er ist der Vernichtung entkommen, der Säuberung, dem 'Wohltätigen Ereignis' des Sultans, dem großen Feuer ...ich bin mir fast sicher, nur weil er die Seinen verraten hat. Und er ist Verbannt worden, weil er dann Mahmud, seinen Sultan, seinen Herren verraten hat. Doch...was...was hat er getan? Ich möchte....so gerne möchte ich daran glauben, das es der Versuch war, der Drang war, seine Fesseln zu lösen. So gerne möchte ich diesen Kreis zwischen ihn und mir.

Ich will, einem träumenden Kind gleich, das alles gut wird. Ich will, das alles einen Sinn hat, erklärbar ist. Und auch wenn ich weiß, das weder das Gute noch die Schönheit greifbar sind, nicht in der Nacht, will ich darauf Hoffen. Ich will darauf bauen, das ich die schwarze Pest, die in mir haust bezwingen kann. Ich will Ashina sein, die Erste eines neuen Clans, die Überlebende, der erste Samen gezeugt von einer Wölfin. Ich will den alten Glauben in mir tragen, obwohl sie meinem Sein widerspricht...denn das bin ich, das war ich und das werde ich immer sein.

Ich will den ewigen Kreis.

Und in der kommenden Nacht werde ich einen weiteren Umlauf vollenden. Wie damals, als ich im Gottesurteil mein Sein erkämpft habe, werde ich um mich kämpfen. Diesmal in einer anderen Arena, diesmal wird ein anderer Alter mit müden Augen mich streifen und soviel wie ein Sandkorn in der Wüste werde ich ihm wert sein. Doch kämpfe ich nicht für ihn. Und vielleicht ist das dann der zweite Kreis der sich schließt. Ja, ich will es glauben. Yaniceri, mein Erzeuger, hat in seinem Inneren auch nie für Mahmud gekämpft. Das brachte ihm seine hundert Jahre Verdammnis, das brachte mir meine hundert Jahre Gefängnis und zwischen all dem Schmerz, machte es mich zu Ashina...denn nur wer seine Ketten liebt, sie nicht verlieren mag.

Die Möglichkeit meine Ketten zu lieben, hat mein Erzeuger mir nie gelassen.
Jetzt bin ich ruhig.
Jetzt habe ich verstanden und will glauben, was ich verstehe.
Wir waren, wir sind, wir werden sein
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Re: [April 2016] Alte Bekannte?

Postby Rafael » 18 Apr 2016, 23:05

"Ja, da soll mich doch... Carlos, das ist doch nicht möglich."

Der ältere Herr sieht in einer seltsamen Mischung aus Unglauben, Erkennen, Verwunderung und Irritation den jungen Mann schräg neben sich an. Sie stehen in einer Schlange, die zu der Kasse des Kalita-Humphrey-Theaters führt. Die Erstaufführung, "Von Zeit und Strom", ist eigentlich schon lange ausverkauft. Wer hier steht ist entweder verzweifelt auf der Suche nach völlig überteuerten Karten oder hat bereits eine Karte und will sich nur nicht vordrängeln.

"Hallo, äh, hallo, entschuldigen Sie bitte, der Herr. Verzeihung, gnädige Frau, würden Sie mich kurz durchlassen? Entschuldigung, darf ich kurz, ah, vielen Dank."

Der Herr arbeitet sich zielgerichtet zur Seite, seinen Stock eng an den Körper gedrückt, den Kragen seines Mantels gegen die Dezemberkälte aufgeschlagen. Unter seiner Hutkrempe beäugt er kurz noch einmal den jungen Mann, der ihm so bekannt vorkommt.

Wie vom Donner gerührt muss er feststellen, dass da vor ihm tatsächlich jemand steht, den er von früher kennt. Aber das war vor über zwanzig Jahren, eher mehr. Tatsächlich. Wie aus dem Gesicht geschnitten. Er stupst ihn an...

"Einen schönen guten Abend. Interesse an amerikanischer Literatur, gutaussehend, geschmeidig - ich würde ja schwören, dass Ihr Name Carlos wäre, aber das wäre wirklich ein Wunder der Natur. Sagen Sie kennen wir uns?"

Der Angesprochene sieht zu dem Älterem hinüber; ein sehr aufmerksamer Beobachter würde vielleicht das kurze Erschrecken, gepaart mit plötzlichem Erkennen, bemerken, aber der ältere Herr ist glücklicherweise gerade zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

Kurz geht er seine Notfallargumente durch, theoretisch hat er diese Situation schon durchgeplant, als er in die Staaten zurückgekommen ist. Er hat die Panik der Amerikaner als Reaktion auf den ersten Satelliten, 'Sputnik', zu seinem Vorteil genutzt und eine sinnvolle Arbeitsstelle in der Forschung gefunden. Aber kaum aus dem Labor draußen, trifft er alte Bekannte. Vielleicht ist die Westküste weit genug weg?


"Verzeihung, Sie müssen mich verwechseln. Mein Name ist Miguel, nicht Carlos."

Der Ältere sieht ihn sich genauer an.

"Miguel? Aber auch die Stimme, das Timbre, die gleiche Neigung des Kopfes. Sagen Sie, haben Sie einen Carlos in der Familie? Ich bin absolut verblüfft, und auch etwas direkt, verzeihen Sie bitte."

Direkt ist kein Ausdruck, aber hier in der Menschenmenge sollte man jedes Aufhebens vermeiden. Hoffentlich sitzen sie weit auseinander, das Stück soll die Zeilen Wolfes tatsächlich sehr gut mit Leben erfüllen. Ein Geniestreich für das neue Theater.

Er nimmt die angebotene Lösung gerne an.


"Tatsächlich war Carlos der Name meines Vaters; Sie kannten ihn?"

"Vater, heh. Na, das ist ja eine Überraschung. Ich hätte schwören können, ähm, Sie wissen, ähm, ich will sagen, naja, freut mich.

Ähm, war, sagtest du?"


Verdammt, das auch noch. Wenigstens ist die Menge hier dicht genug, um kompromittierende Szenen erstmal nicht befürchten zu müssen.

Verzweifelte Versuche, sich an das Umfeld des Älteren - ah, William irgendwie'. Ein Wolf durch und durch, immer auf der Suche nach der neuesten Eroberung, egal ob trade oder fairy. An Federico hatte er sich damals auch rangemacht, aber der hatte ihm eine Abreibung in Form einer Satire verpasst, die sich gewaschen hatte.

Was hat er vor, der alte Bock? Dazu noch so ganz nebenbei ins Duzen übergewechselt. Na gut, Denken, egal was - aber dieses Stück will gesehen werden...


"Ja, er hat sich in den Bürgerkrieg eingemischt, Sie wissen, der Spanische Bürgerkrieg, und ist dabei umgekommen. Die Hälfte des damaligen spanischen Salons hat es wohl erwischt, entweder im Vorfeld, Lorca beispielweise, oder direkt im Kampf.

Ich kann mich gar nicht richtig an ihn erinnern, aber meine Mutter hat mir viele Bilder gezeigt und seine Texte vorgelesen. Insofern, ja, daher rührt wohl mein Interesse an der Literatur. Haben Sie ihn gut gekannt?"


Sie kommen langsam weiter, lange kann es nicht mehr dauern, bis sie in der Wärme sind. Dem Älteren ist sicherlich bereits kalt.

William sieht ihn an, mustert ihn etwas genauer.

"Faszinierend, wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Bist du alleine hier? Ich hätte ja fast eine Frau an deiner Seite erwartet, so schick angezogen, wie du bist."

Tatsächlich tätschelt ihm der Alte schon die Hand. Kann doch wohl nicht sein, New York ist weit weg, zeitlich, räumlich, ein ganz anderes Leben. Aber gut, das Spiel geht weiter.


"Ich wüsste nicht, dass man sich nur schick kleiden darf, wenn man mit einer Dame verabredet ist. Ist das eine Sitte bei Ihnen? Die ist mir hier in der Stadt auf jeden Fall noch nicht untergekommen."

Ein kurzer Blick, kein Interesse heucheln, aber auch keine Ablehnung zeigen. Eroberung, das reizt die Wölfe doch immer noch am meisten.

"Natürlich, natürlich, ist ganz klar."

Der Alte wendet sich nach vorne; ja, da kommt der kurze Seitenblick, er hat angebissen.

Sie sind schon fast im Foyer, wo werden die sanitären Anlagen wohl sein? Nein, das ist nicht der Stil von damals. Die haben sich meist, ach, genau. Hmm, vielleicht bei der Garderobe, dort sollte stille Ecken geben, ein ständiges Kommen und Gehen; mal sehen.

"Na, Billy, was machst du denn hier? Wollten wir uns nicht am Eingang treffen?"

Ein anderer, jüngerer Mann. Kurzer Blick, trade. Die beiden kennen sich und der dritte will wohl seine vermeintlichen Hoheitsrechte verteidigen. Dass er dem Alten damit gerade das Leben rettet, wir keinem von beiden bewusst sein, aber manchmal haben die Menschen eben Glück.

Sie gehen im Foyer auseinander, nicht ohne sich für nach der Vorstellung zu verabreden. Reine Floskeln. Noch bevor er an seinen Sitz gelangt, hat er sich bereits einen Reiseplan zurechtgelegt. Zum Ende des Monats wird er alles erledigt haben, was er braucht. Dann wird er sich leiten lassen, noch ist er jung, seinem Erzeuger wird er dort ebenfalls nicht begegnen, der ist an der Ostküste geblieben.

Washington hatte sich gut angehört, wahrscheinlich wird's Seattle selber werden...
Der Tango kommt aus den Slums, nicht vom Parkett. Wenn man das nicht mehr sieht oder spürt, dann ist er tot.
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Re: [April 2016] Alte Bekannte?

Postby Elias » 19 Apr 2016, 14:02

Der Beichtstuhl war eng und stickig, aber das nahm Sandford kaum wahr. Diese blöde Nutte hatte ihn verraten und das auch noch für die paar lausigen Bucks. Die Marcello-Brüder waren wohl doch nachtragender gewesen als er gedacht hatte, Profis hätten es darauf beruhen lassen, aber die beiden mussten ja unbedingt eine persönliche Sache draus machen. Deswegen waren sie jetzt auch tot und er selbst auf dem besten Weg vor seinen Schöpfer zu treten.

Was für eine Ironie, seit der Kommunion war er nicht mehr zur Beichte gegangen und jetzt hatte er sich wie ein waidwundes Tier hierher geschleppt, versteckte sich in einem Beichtstuhl. Sandfords Lippen verzogen sich zu einen schmerzverzerrten, blutigen Grinsen, wenigstens hatte er es den beiden ordentlich gegeben... nur um sich dann einen Bauchschuss einzufangen. Scheiße, er hätte weiter draufhalten sollen, Jackie war noch nicht ganz hinüber gewesen.

Moment, war da nicht ein Geräusch gewesen? Ein ganz leises, nebenan, dort wo der Priester hinter dem Beichtfenster den Sündern lauschte? Sandford musste würgen, spuckte zähflussiges Blut, dann lauschte er... nein er musste sich geirrt haben. Verdammt, wenn doch nur eine Priester hier wäre. Mike hatte ihm damals mal erzählt, dass irgendein Kaiser sogar noch auf dem Sterbebett Abbitte geleistet und sich zu Gott bekannt hatte.

Jetzt wo das Leben rot aus ihm heraussickerte, Sandford sich bewusst wurde, dass er hier sein Ende finden würde, kamen ihm die Gebete seiner Kindheit in den Sinn. Lang vergessene Hoffung und Angst mischten sich. Konnte jemandem wie ihm überhaupt vergeben werden, einem Mörder? Er hatte getötet, manchmal aus Zorn, selten einmal aus kalter Notwendigkeit heraus und oft, so oft für nichts als Geld...

Da war doch ein Geräusch, mit zitternder Hand hob Sandford den blutverschmierten Revolver
.

"Ist da jemand?" Seine Stimme war nur ein schwaches Krächtzen, die Augenblicke verrannen und da war nichts als Stille. Mit einem dumpfen Geräusch sank die Hand mit der Waffe auf den hölzernen Boden.

"Was führt dich hierher meine Sohn?" drang eine Stimme wie von fern an Sandford Ohr. Dem Impuls den Revolver zu heben und durch das dünne Holz hindurch zu schießen, er war da, doch allein die Kraft dazu fehlte. Mit leiser, flüsternder Stimme, schon im Dilirium kam von dem sterbenden Mann nur ein Wort: "Vergebung."

Wieder vernahm Sandford mit schwindenden Sinnen diese Stimme. Leise, eindringlich, wissend.

"Vergebung wirst du hier nicht finden, vielleicht am Ende aller Tage... Sandford. Du, dem der Tod ein ständiger Begleiter ist. Du wirst weder ihn noch Vergebung heute Nacht finden."
Die röchelnden Atemzüge Werden schwächer, Sandford nimmt nur noch am Rande seines Bewusstseins wahr, als die Stimme erneut zu ihm spricht. Näher, viel näher.

"Willkommen in der Finsternis... Alter Freund."
Das Ursprüngliche in uns ist Schweigsamkeit; das Erworbene Beredsamkeit.

Khalil Gibran
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Re: [April 2016] Alte Bekannte?

Postby Clara de Vries » 20 Apr 2016, 13:54

La Romana
Provinz Alicante; Spanien
23:38 h Ortszeit


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Es war ein armseliges Haus, für ihre Verhältnisse. Großzügig angelegt, mit einem wilden Garten und wucherndem Unkraut, zwischen blühenden Heckenrosen. Ein vor sich hin rostender, schmiedeeiserner Pavillon und schiefe Umzäunung, vermittelten das Bild von in die Jahre gekommener Eleganz. Die Fassade war gesprungen, Farbe blätterte ab und die Fensterläden hätten gut und gerne noch aus dem vorigen Jahrhundert stammen können. Trotzdem war sie gekommen; wusste eigentlich nicht warum. Warm war es und trocken, ganz anders als sie es in Erinnerung hatte aber zumindest gab es in der idyllischen Ruhe der Umgebung, niemanden der sie stören würde. Nun, bis auf Sykes, der hatte sich dreimal verfahren, bis sie sich durch selten befahrene Straßen, zum Haus vorgekämpft hatten und kontinuierlich geflucht. Sie würde es wieder gut machen, eines Nachts.

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Eine Klingel suchte sie vergebens, als sie die schmale, knarzende Holztreppe zur Eingangstür nach oben schritt und so blieb ihr nichts anderes übrig, als mehrmals zu klopfen. Es mochten gute zwei Minuten verstreichen, bis ihr eine sonnengebräunte Dame mittleren Alters öffnete und sie auf Spanisch begrüßte. „Isabella Delgad…“, sie unterbrach sich selbst und warf einen Blick auf das kleine Stück Papier in ihrer Hand, „Isabella Martinez… mir wurde gesagt, sie würde hier wohnen?“ Ihr eigenes Spanisch, klang durchaus kompetent, womöglich etwas eingerostet aber immerhin verständlich. Die Dame an der Tür vollführte gestikulierende Tiraden und wirkte wie in einer Mischung aus merkwürdigem Misstrauen und Verärgerung. Die Uhrzeit war ein Problem für sie, als auch die Tatsache dass sie offensichtlich Ausländerin war. Die Spanierin schüttelte den Kopf, deutete auf ein Schild im Flur, auf dem die Besuchszeiten angeschlagen waren. An der Tageszeit, konnte die nächtliche Besucherin jedoch nichts ändern aber der Ausdruck in ihrem Gesicht, machte deutlich das sie sich nicht abwimmeln lassen würde. Es war im Grunde reiner Zufall gewesen, das sie überhaupt hier war und es würde keine zweite Gelegenheit mehr geben. Seufzend, warf sie einen prüfenden Blick zurück zum Auto und holte einen kleinen, zerknitterten Umschlag aus ihrer Hosentasche hervor; hielt ihn der Spanierin hin. Sykes hatte alles darauf gewettet, dass sie ihn noch brauchen würde und behielt Recht. Eine Weile lang diskutiert man noch mehr oder weniger angeregt, dann wagte der weibliche Portier tatsächlich einen Blick ins Kuvert und verstummte. „Geben sie mir nur ein wenig Zeit mit ihr, mehr verlange ich gar nicht. Davon hat sie nämlich nicht mehr allzu viel und ich auch nicht.“ Zusammen mit ihrem ernsten Blick und dem Inhalt des kleinen Kuverts, wurde sie etwas wortkarg eingelassen. Geld öffnete Türen aber keine Seelen.

Mit einer stummen Geste, deutete die Spanierin auf eine schmale Treppe in den ersten Stock und ließ die frisch gedruckten Gelscheine, nach sorgfältiger Prüfung in ihrem Kittel verschwinden. „Senora Martinez hat ihr Zimmer am Ende des Ganges aber wecken sie die anderen Bewohner nicht. Sie ist sehr schwach… der Krebs…“, weiter kam sie nicht. Was hätte man noch hinzufügen können, das sich nicht schon erahnen ließe? Von einem bedrückten Nicken begleitet, wandte die Besucherin sich der Treppe zu, während hinter ihr die Haustür quietschend geschlossen wurde. Knarzend setzte sie vorsichtig jeden ihrer Schritt und bahnte sich den Weg ins obere Stockwerk. Das Innere des Hauses, spiegelte das Äußere wider, obgleich man sich redlich bemüht hatte die notwendigsten Instandhaltungsarbeiten, nach bestem Wissen und Gewissen durchzuführen. Was in diesem Fall als ‚unzureichend‘ bezeichnet werden konnte. Alte Lampen hingen von der Decke und an den Wänden, waren fleckige Kupferstiche angebracht worden. Die Tapete war von einem grün-gräulichem Blumenmuster gesäumt und hie und da sammelte sich in den Ecken Schimmel. Der Parkettboden hätte eine dringende Generalsanierung notwendig und bei jedem ihrer Schritte, hatte sie Angst etwas zu beschädigen. Im ersten Stockwerk, erstreckte sich ein langer Flur von dem mehrere dunkle Türen abgingen. Hinter einigen hörte sie spanische Versionen von Talkshows oder Komödien, irgendwo plätscherte unaufhörlich Wasser und ab und an vernahm man ein rasselndes Husten. Die letzte Tür am Ende des Ganges, war ihr Ziel. Sie schloss die Augen und atmete tief ein und aus, dann klopfte sie an das schwere Holz.

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Vom inneren des Zimmers, hörte man eine gedämpfte Frauenstimme, der man das Alter selbst jetzt schon anmerkte. Sie sprach Spanisch und wirkte verärgert.
„Ich habe es ihnen doch schon zigmal gesagt Inès, ich will keine Schmerzmittel mehr. Das Zeug vernebelt einem den Geist und macht lethargisch. Sagen sie Dr. Ibanez, dass er die Dosierung gefälligst ändern soll!“ Sie seufzte, suchte mit ihren Blicken etwas, an dem sie sich festhalten konnte, um die richtigen Worte zu finden. „Inès ist nicht hier, ich….“ Sie biss sich auf die Lippen. „Ich komme weil…“ Weiter kam sie nicht, da hörte man bereits eine lachende Rückantwort. „Keine Inès? Na das ist doch mal eine Überraschung. Wer sind sie und was wollen sie? Was machen sie überhaupt um diese Zeit hier? Schickt sie der blutsaugende Anwalt?“ In Ermangelung einer passenden Rückantwort, schüttelte sie nur betreten den Kopf und stieß angespannt die Luft aus ihren Lungen. „Nein ich… ich bin, eine alte… Freundin und… wollte sie…. sehen. Ich war zufällig in der Gegend und…“ Abermals wurde sie unterbrochen, diesmal vom Verrücken eines schweren Sessels, der über den Parkettboden kratze. So hörte es sich zumindest an. „Ich bekomme nur sehr selten Besuch… kommen sie rein, wer immer sie sind. Es tut nichts zur Sache, für wen sie arbeiten. Unterhalten wir uns.“ Ihre Hand fühlte sich bleiern an, als sie die Türklinke nach unten drückte und die Zimmertür langsam öffnete; vorsichtig den Raum betrat. Nachdem die Tür wieder ins Schloss gefallen war, wagte sie einen Blick über das Zimmer. Es bestand lediglich aus zwei Räumen. Einmal ein kleines Bad mit altertümlichem Spiegel und Wanne, dann der Wohnraum mit einem kleinen Schreibtisch, in der hinteren Ecke ein wackeliges Bett und eine Staffelei. Auf der Ablage im Bad, häuften sich Medikamentendosen und- Verpackungen, zusammen mit Kosmetika und anderen Hygieneartikeln. Der Schreibtisch war voll beladen mit Büchern, größtenteils Romane, was man auf den ersten Blick sagen konnte und die große Leinwand zierte ein angefangenes Gemälde, welches die nackten Umrisse einer Frau zeigte. Farben, Pinsel und Bestecke, waren in großen Blechdosen auf einem Beistelltischchen.

Dann war da der große Ohrensessel der vor den geöffneten Türen eines schmalen Balkons stand, mit abgenutztem Bezug und davor, stand auf Krücken gestützt, eine alte, eingefallene Frau, die sie mit scharfem Blick beäugte. Ihre Haut war sonnengegerbt und faltig; wirkte wie mit einem Grauschleier überzogen und man merkte allein an ihrer Haltung, dass sie Mühe hatte das Gleichgewicht zu halten. Das Gesicht war dezent geschminkt und wirkte ausgemergelt; dennoch hatte sie ihren Stolz auch noch im hohen Alter behalten. Ihre Augen und das Haar, waren von so pechschwarzer Farbe, dass es einen zu verschlucken drohte und schimmerten wie Sterne am Nachthimmel. Sie mochte einiges an Aufwand betrieben haben, sich immer noch zurecht zu machen, denn jede Strähne des schulterlangen Haares, schien sorgfältig gebürstet und verspielt drapiert. Natürlich gefärbt; der verzweifelte Versuch die Zeit aufzuhalten oder abzubremsen. Sie hob die Hand an den Mund und sah sie mit geweiteten Augen an, schüttelte ohne es selbst zu merken fassungslos den Kopf. „Was ist mit dir? Die Jugend weicht dem Alter meine Liebe, selbst du wirst auch irgendwann nicht mehr ganz so hübsch und attraktiv sein; von den kleinen Gebrechen hie und da ganz zu schweigen. Das ist der Lauf der Dinge. Also, wer bist du und was willst du? Wenn du nicht von der Kanzlei bist, wer bist du dann?“ Abwartend sah sie ihren Gast an und bewegte sich langsam und angestrengt, auf ihren Krücken zur Balkontür um diese zu schließen. Draußen zirpten die Zikaden und aus einem kleinen CD-Player in der Ecke, drangen die leisen Klänge einer Gitarre. Die Dame, die später unter dem Namen Clara bekannt werden sollte, sah die alte Frau lange und beinahe mitleidig an; es schmerzte sie Isabell so zu sehen. Alt, gebrechlich, zerfressen von Krankheit und Gram. Sie war ein Spiegel dessen, was jedem Menschen am Ende seines Weges widerfahren würde. Die Haut faltig und zerfurcht, das Gesicht und der Körper gezeichnet von den Jahren aber ihre Augen… in ihren Augen lag noch immer die Erinnerung an dieses resolute, spanische Mädchen, das sie nie hatte vergessen können. Jetzt war Clara tot und Isabell würde es ebenfalls bald sein. Die Zeit verändert alles und bewegt sich unaufhörlich weiter. Wortlos, wandte sie sich der Staffelei zu und ging einige bedachte Schritte; glitt mit den Fingerkuppen über die raue Oberfläche der Leinwand.

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Nachdenklich hoben sich ihre Mundwinkel leicht an.
„Du hast damals schon toll gemalt. Ich habe deinen Aquarell-Schmetterling immer noch; hab ihn nie weggeworfen. Wir alle wussten, dass du irgendwann mal eine gefragte Künstlerin werden würdest und was ich so mitbekommen habe, hast du dich sogar an Acryl und Öl versucht. War nicht ganz einfach dich zu finden, du hast geheiratet. Scheinbar diesen Angeber Martinez; ich konnte es kaum glauben. Damals hast du Ölfarben gehasst.“ Ihr Blick glitt hinüber zu der alten Dame und etwas leiser fügte sie hinzu: „Damals… hast du ihn gehasst.“

Die Balkontür wurde umständlich geschlossen und die alte Frau fixierte Clara mit einem äußerst misstrauischen Blick, bevor sie ein paar unbeholfene Schritte auf sie zu machte und sich neben ihr an der Staffelei positionierte. „Du bist zu jung um dich an so etwas zu erinnern Liebes. Joseph Martinez war ein Angeber und Schwerenöter und wir haben uns jahrelang gehasst, trotzdem war da immer ein gewisser Charme, dem ich rettungslos verfallen bin. Wir hatten viele gute Jahre. Auch schreckliche Jahre aber ich hatte immer Zeit um zu malen und meine Kinder groß zu bekommen. Ich bereue nichts, bis auf die Tatsache, ihn nicht häufiger geohrfeigt zu haben. Diese ganzen Scheidungsgeschichten ziehen sich jetzt schon ewig hin, nicht einmal hier habe ich meine Ruhe.“ Ohne sie um Erlaubnis zu fragen, stützte die alte Frau sich an Clara ab, um mit der freien Hand die Konturen ihres Bildes nachzuzeichnen. „Wer bist du und wie heißt du? Ich kenne dich nicht und auch wenn mein Gedächtnis nicht mehr das Beste ist, sollte mir dein Gesicht doch etwas sagen. Dein hübsches Gesicht mit diesen funkelnden Augen…“ Sorgsam studierte Isabell die feinen Gesichtszüge ihrer Besucherin und es dauerte eine gute Weile, bis sich nach und nach eine schauderhafte Erkenntnis einstellte, die den gebrechlichen Körper erzittern ließ. Sie stieß sich von Clara ab, umschlang die Krücken und wäre beinahe gestürzt, als sie sich überhastet von ihr wegbewegte. Clara schüttelte nur den Kopf und in ihren Augen lag etwas wehmütig Flehendes. Sie wollte sie noch stützen, ihr Halt geben um sie aufzufangen aber die alte Frau stieß sie mit der Krücke von sich.

„Du… du… das ist nicht möglich. Das ist nicht wahr! Wer immer du bist, das ist alles eine Lüge. Sie ist tot. Jahrelang habe ich nichts von ihr gehört und dann hieß es, sie wäre erschossen worden! Du bist eine Schauspielerin, ein Double das mir die Anwälte geschickt haben! Gierige Bastarde!“ Aufgebracht und bebend, schrie sie Clara an und in all dieser Verzweiflung, lösten sich die ersten Tränen aus ihren Augenwinkeln und liefen die faltigen Wangen hinab.


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Die Besucherin hob beschwichtigend die Hände und sah Isabell mit einem verzweifelten Ausdruck an, ein Ausdruck der voll qualvollem Schmerz und Sehnsucht schien. Am liebsten hätte sie ebenfalls geweint als die Bitterkeit des Moments sie zu übermannen drohte aber damit hätte sie es nur noch schlimmer gemacht. „Bitte… Isabell. Ich bin es, du musst mir glauben, bitte! Ich weiß es klingt verrückt und wie eine verdammte Lüge aber es ist die Wahrheit! Ich kann es erklären, bitte.“ Isabell schüttelte nur angewidert und verletzt den Kopf, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihre verlogenen Worte mochten plötzlich wahr werden und der grausamen Wirklichkeit. Clara fiel vor ihr auf die Knie und hielt sich an ihren Beinen fest, hielt den weinerlichen Blick in einer Grimasse des Schmerzes auf sie gerichtet. „Toledo! Erinnere dich an Toledo Isabell! Ich hatte furchtbare Angst. Angst davor was passieren würde, wenn uns irgendjemand sieht. Angst davor was mein Vater machen würde, wenn es ihm irgendjemand erzählt hätte. Angst vor allem, vor mir selbst, vor dir! Ich wollte es verleugnen, ich wollte es nicht wahrhaben aber du hast mich einfach nur an dich gedrückt und gesagt…“ Isabells Augen hatten sich geweitet, ihre Miene war zu einer starren Maske der Trauer geworden. Langsam ließ sie eine ihrer Krücken fallen; die zitternde Hand wanderte an Claras Gesicht und strich ihr behutsam über die Wange.

„Lo más importante no se ve con los ojos sino con el corazón.“ Die Hand glitt langsam an ihr herab und wurde von Clara aufgefangen, die sich hilflos daran anschmiegte, als wäre es der wertvollste Schatz auf Erden. „Bitte..“, flüsterte sie mit heiserer Stimme und verschluckte sich fast dabei. Isabell schwieg für einen schier endlose Zeit, dann schüttelte sich ihr Kopf mit dem Haar wie pechschwarzer Nachthimmel. „Es gab einst eine Frau, die mich berührt hat, eine Frau die sich so gegen sich selbst und ihr eigenes Glück gewehrt hat, dass sie nicht einmal erkannte, dass all die Dinge, die sie jemals wollte, direkt vor ihr standen. Diese Frau, habe ich geliebt. Geliebt für das was sie war und ich wäre den Weg, bis zum Schluss mit ihr gegangen.“ Clara sah erwartungsvoll und flehend zu der alten Frau hoch, wagte es nicht zu blinzeln.

„Aber das ist Vergangenheit, eine verblassende Erinnerung in Bildern, Worten und zärtlichen Berührungen. Sie ist tot und ich werde ihr bald folgen. Und so es einen Himmel für uns beide gibt, werde ich sie wiedersehen und wir machen da weiter, wo wir aufgehört haben.“ Sie entzog ihr die Hand und starrte sie mit abschätzigen Blick an. Es legte sich abweisende Wut auf ihr Gesicht. „Wer oder was immer du bist, verschwinde aus meinem Leben und lass mir meine Bilder. Das ist alles, was mir geblieben ist.“ Clara öffnete tonlos den Mund, wie um etwas zu erwidern aber schon längst, hatte sich die unweigerliche Erkenntnis in ihre Seele gefressen und das nicht mehr schlagende Herz getroffen. Toledo war ein Aquarell in den buntesten, schillerndsten Farben, ein sonnenbeschienener Traum von Zufriedenheit und Glück. Die Sonne war schon lange unter gegangen und niemals mehr würde sie die Wärme dieser Zeit mehr auf ihrer Haut spüren. Sie erhob sich schwerfällig und ungelenk, hielt die Augen für einen kurzen Moment geschlossen, bevor sie sich langsam umdrehte und auf die Zimmertür zuhielt. Belegt erklang ihre leise Stimme zum Abschied. „Ich werde dich nicht vergessen Isabell.“ Sie sah sich ein letztes Mal zu ihr um, versuchte in diesem vom Alter gezeichneten Körper, die sehnsuchtsvollen Zeiten eines anderen Ortes zu erkennen. Und für einen kurzen Moment lang, waren sie beide wieder lebendig. Die faltige Haut und der gebückte Gang verschwanden und anstelle dessen trat ein hübsches Mädchen, mit kessem Blick und dunkler Haut; das Haar pechschwarz wie der Nachthimmel. Der Himmel von Toledo. „Wo immer du hingehst… warte auf mich“, flüsterte sie während ihre Hand bereits wieder an den Türgriff glitt, um diese zu öffnen. Als die Tür ins Schloss fiel, unterdrückte sie die Lippen aufeinanderpressend ein paar blutige Tränen.

Draußen auf dem Flur, kam ihr bereits Inès entgegen, die sich schon im Entgegenkommen lauthals bei ihr beschwerte. Die anderen Bewohner fühlten sich gestört und es könne ja nicht angehen, dass hier um diese Uhrzeit wild herumgeschrien wird. Es leben alte und gebrechliche, teils schwer kranke Menschen in diesem Haus und ein wenig Rücksicht ihrerseits, wäre wohl zu erwarten gewesen. Clara ignorierte die wild Spanisch keifende Frau und wollte schon an ihr vorbeigehen, als diese in ihren Tiraden nicht aufhören wollte sondern sich im Gegenteil noch in Rage redete. Da hatte sie doch eine beträchtliche Summe Geld bekommen und trotzdem schien sie nicht zufrieden; kein Wunder. Gäbe es irgendwelche Vorkommnisse, müsste sie dafür gerade stehen. Ein wenig Urlaubsgeld, war scheinbar nicht so viel Wert wie ein geregeltes Einkommen. Mit einem eisernen Griff, rammte Clara die Nachtschwester gegen die tapetenüberzogene Wand des Flurs. „Vorsicht Inès. Ihr seid hier so allgegenwärtig von schleichendem Tod umgeben, das ihr nicht einmal merken würdet, wenn er euch tatsächlich besuchen kommt.“ Die schmerzvoll-entsetzten und ungläubigen Blicke der Frau ignorierend, löste sie ihren Griff und nahm ohne ein weiteres Wort den Weg über die Treppe nach unten, in Richtung Ausgang.

Im Wagen vor dem Haus, wartete bereits Sykes, der bei offenem Fenster die Lehne nach hinten geklappt hatte und sein Gesicht mit einem Pornoheft bedeckte. Es sah aus, als würde er in der schwülen Nachhitze ein Nickerchen machen. Clara öffnete die Beifahrertür und ließ sich mit einem schweren Seufzen auf den Sitz fallen; atmete ein paar Mal tief durch. Nachdem sie sich wieder ein Stück gefangen hatte, richtete sie ihren Blick verwundert in seine Richtung. Nach wie vor hatte er sich nicht gerührt. „Schläfst du?“ Seine genuschelte Rückantwort, kam ohne Umschweife. „Ne, ich lese. Sieht man doch.“ Mit einem dezenten Überdrehen ihrer Augen, unterdrückte sie ein kurzes Lachen. Sie war froh dass sie ihn dazu hatte überreden können, als ihr Fahrer zu fungieren. Es tat gut ihn dabei zu haben. „Gibt’s irgendwas neues von Hernandez? Sind wir soweit fertig?“ Sykes antwortete nicht sondern begann vor sich hin zu murmeln. „Mit unerbittlichen Stößen, trieb er seinen harten…“, weiter kam er nicht, da hatte sie ihn bereits entnervt in die Rippen gestoßen, sodass ihm der Lesestoff vom Gesicht glitt. Wobei der Ausdruck ‚Gesicht‘ bei Sykes beinahe schon übertrieben war, denn sein schiefes, von spitzen, fauligen Zähnen durchsetztes Lächeln, prangte inmitten eines schwülstigen Fleischhaufens, der aus angeschwollenen, deformierten Lagen Gewebe bestand und sämtliche Personen im näheren Umkreis, zu panischen Schreien des Entsetzens bewogen hätte.

„Ok ok, dann les ich dir die Stelle ein andermal vor.“ Ein übertrieben gelangweiltes Seufzen später, ließ er die Lehne wieder nach vorne gleiten. „Hernandez hat vor ungefähr zehn Minuten angerufen und alles geregelt. Soweit ist alles klar; wir fliegen erste Klasse ohne Zugluft.“ Clara nickte und schnallte sich an. „Na dann, auf nach Hause.“ Der Nosferatu neben ihr steckte den Schlüssel ins Zündschloss und schüttelte nur gemächlich den Kopf. „Nein, es geht nicht nach Hause. Wir werden verlegt.“ Seine Bemerkung, kostete sie nur ein müdes Lächeln und sie ließ sich weiter zurück in die Lehne sinken; betätigte den elektrischen Fensterheber um der angestauten Hitze entgegenzuwirken. Wenig erfolgsversprechend, wenn man bedachte wie schwül es ohnehin rings um sie herum war. „Ich hab es mir schon gedacht. Das macht er nur wegen… du weißt schon.“ Sykes ließ träge den Motor an und aktivierte das Navigationsgerät an der Frontscheibe. „Oder so, ja.“ Etwas nachdenklich schielte er zu ihr, als die monotone Stimme des Geräts ihm die Richtung diktierte. „Wer war sie? Eine alte Bekannte?“

Clara hielt ihren Kopf leicht schief gegen die Lehne gedrückt und starrte mit offenen Augen zu dem armseligen Haus, das keine zehn Meter von ihr entfernt war. So nah und doch so unendlich fern.

„Eine Erinnerung…“

Dann kam der Wagen langsam in Bewegung und bog nur wenig später wieder auf die desolate Landstraße ab. Im Schein der xenonverstärkten Abblendlichter, leuchtete kurz darauf ein per Hand gemaltes Straßenschild auf. Eine gute Stunde bis nach Valencia.

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[Abspann: Historia de un amor]
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Clara de Vries
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Re: [April 2016] Alte Bekannte?

Postby Maldito Muerte » 25 Apr 2016, 11:53

"Du machst einen Fehler Junge."
Mit einem kalten Lächeln sah der "Junge" an dem alternden Mann vorbei zu dem ebenso alternden Gebäude hinter ihm. Ziegelsteine und Bretter, dünne Scheiben und ein schiefer Kamin. Leere Fenster. Eine nackte Glühbirne die im Inneren langsam baumelte als wäre just eben noch Bewegung dort gewesen - und das war es, was den "Jungen" im Hinterkopf beunruhigte. Irgendwo war hier noch jemand, dieser alte Sack war nicht alleine wie man ihm versprochen hatte.
"Ich erledige nur meinen Job Großvater, spar dir den Atem."
der 'Großvater' lächelt knapp und verschränkt die Arme ineinander. Er kannte diese Gesichter, diese kleinen Tätowierungen am Nacken, die Stichmale am Handgelenk von jenem absurden Handschmuck den sie dort trugen. Das Jungchen hier trug sein Armband noch nicht lange, der Körper entschied sich immernoch regelmäßig sich zu entzünden entlang der Stacheldrahtwunden. Gemächlich wandert sein Blick an der schlacksigen Gestalt hinauf und hinab, betrachtet sein unwillkürliches Zittern, beobachtet den hektische Verlauf seiner Blicke und damit zu Teilen auch, seiner Gedanken. Beobachtet das krustige Kappmesser in seiner Hand.
"Ein Schnitt und Du kannst gehen."
"Dies ist mein Haus, Junge. Nimm Deinen Müll einfach wieder mit - denn ich gehe nirgendwohin."
Das Lächeln verrutscht etwas und der Junge fokussiert wieder auf den alten Sack vor ihm, der mit einer nachlässigen Geste gerade auf den verstümmelten Affenkadaver deutete. Jenen Kadaver, den er und seine Jungs vorher und mühevoller Kleinarbeit mit Stöcken verprügelt hatten, mit Ketten geschlagen und schmierigen Kolbenstangen verdroschen - so das sein Fell fleckig und voller Blut war, schmierig und verklebt. Nur ein Job. Die Sicherheit kehrt in das Herz zurück bei der Erinnerung an die vorangegangene Gewalttat. Nur ein Zeichen.
"Mach es mir nicht so schwer, weist du denn nicht wer ich bin?!"
"Natürlich..."
Aufreizend zog er das Wort in die Länge und versah es mit einer abfälligen Note, dem Hauch der Unbedeutsamkeit vor der Welt und der eigenen Person. Dem eigenen Recht des Heims, der Grenzen jener Domäne auf der er stand. Sacht hob er die Schultern und sah ihm wieder fest ins Gesicht, dem Jungen. Fixierte seinen Blick und in der unwillkürlichen Ebene körperlicher Kommunikation waren beide in ihrem jeweiligen Anblick gefangen, weil sie es so wollten. Uhren tickten in ihnen und jeder wartete vom Anderen auf etwas. Doch von ihm war alles ausgegangen was notwendig war, alles gesagt - der Junge war am Zug.
"Ich bin der Teufelstänzer... der Nachtbringer, Mann. Il mano."
Da war nichts in den Augen dieses alten Mannes, nur diese sachte Verachtung. Wie konnte dieser alte Sack so ruhig bleiben, verdammte Scheiße? Mit einem sachten Tremor im Arm erinnerte ihn ein sachter Druckschmerz an das Messer, das er in der Hand hielt. Bei aller Geilheit hier war ein Job zu erledigen und nun nachdem er sich angemessen angekündigt hatte, alle wussten was Phase war, ging es nun ans schneiden. Unwillkürlich ruckt sein Arm vor und will nach ihm stechen, das Blut fließen lassen wie es der Auftrag war. Einfach nur ein schneller Stich in den Bauch, oder den Oberschenkel. Banaler Auftrag eigentlich.
Etwas hinderte seine Hand daran sich zu bewegen. Eine irritierende Kälte breitete sich in seinem Unterleib aus und ein kurzer, feuriger Schmerz lief die Wirbelsäule hinab - und dann wieder hinauf wie auf einer Feuerlohe getragen. Verständnisslos folgten die Augen starr dem reglosen Gesicht des alten Mannes, der sich nicht gerührt hatte und auch weiterhin unbeweglich stand während die Welt kippte, der Boden rasend schnell näher kam und im Kopf alle Kontrollampen ausgingen die mit Beinen, Füßen oder generell irgendwas unterhalb seines Nabels zu tun hatten.
Die Kollision mit dem Untergrund war unvermeidlich und nun, da sich seine Augen in heillosem Unverständnis umherbewegten, wurde er dieser anderen Gestalt gewahr.
Schlagartig.
Über ihm hockt ein alter, stinkender Mann in einem Poncho der ausschaut als hätte er die Jahrhundertwende mitgemacht - damals, zu Christus Zeiten. Das faltige, ledrige Gesicht hatte diese rituellen Vernarbungen und Bemalungen der Ureinwohner die man schon längst vergessen hatte und rote, glühende Augen. So eine Scheiße.
Langsam sickert das Erkennen wie zäher Sirup durch den Verstand und nur just um das zu beschleunigen, dringt die schnarrende Stimme des stinkenden Monsters in seinen Kopf und lässt etwas in ihm vor Angst kreischen.
"Ich bin Maldito Muerte."
Fast liebevoll verfolgt der stehnde alte, ungeschnittene Mann die Worte jenes Monsters und atmet ruhig, tief und konzentriert. Alles davon aufzunehmen, jeden Moment in seiner Erinnerung zu bewahren um ihn fest einzuschließen.
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Maldito Muerte
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