Gedankenspiele im Netz (Spook, Elias)

[Elias]

Nur wenige Nächte nach ihrer Begegnung auf den unterirdischen Straßen Near North' erhielt Spook eine Email von elijáhu58@yahoo.com.

Betreff: Demokratie und Atheismus im Spiegel der Nächte

"Werter Spook,

Zunächst der Form halber: Diese Emailadresse ist nicht besonders gesichert, allerdings nutze ich sie nur zum Zwecke unserer Korrespondenz und schreibe Ihnen auch nur von öffentlichen Zugangspunkten wie Cafés, Bars et cetera. Ich denke das sollte genügen und sollten wir nicht sehr spezielle Schlagwörter verwenden wird unsere Unterhaltung in der Datenflut untergehen.

Zugegeben mit dem Kern, dem wahren Ideal der Demokratie hat das alles nicht mehr viel zu tun, aber meine Gedanken zur Ähnlichkeit der amerikanischen, westlichen Demokratie und der Organisation zu der ich gehöre sind meiner Meinung nach ebenso frappierend, wie auf den zweiten Blick ziemlich offensichtlich. Wohlgemerkt ich meine die reale funktionierende Gesellschaft, kein Ideeelles Konstrukt des bestmöglichen Zustandes.

Im Endeffekt läuft es in beiden Welten darauf hinaus, dass einige wenige die Macht innehaben, auch wenn die breite Masse im Glauben ist eine Stimme zu haben die gehört wird. Diese elitären Zirkel sind es die zum Beispiel die Wirtschaft, Medien und Politik kontrollieren. Oft genug entstammen diese Personen aus den gleichen Familien wie schon ihre Vorgänger. Die Macht konzentriert sich auf einige wenige. Natürlich sind die Menschen die sich an der Macht wähnen oft genug gebunden an... die viel älteren Strukturen.
Bei uns gibt es natürlich keine freien Wahlen, aber nur in den seltensten Fällen kann jemand die Macht an sich reißen und halten ohne Unterstützer. Aber auch bei den Wahlen hier in den USA ist es ja nun nicht so als ob ein Kandidat ohne massive Unterstützung seitens elitärer Geldgeber Chancen hätte.
So schrecklich das alles klingt, wir Spielen und leben nach bindenden Gesetzen, die für alle gelten. Gelegentlich werden sie gebogen oder gebrochen, aber das System funktioniert und schützt jene die darin leben. Soweit zu den von mir angesprochenen Parallelen.

Mit freundlichen Grüßen,

E."

Vermutlich waren dies weder alle Gedanken die Elias zu diesem Thema in sich trug, noch war dies seine unverrückbar klare Überzeugung, denn wie er ja gesagt hatte beneidet er Spook fast darum etwas zu haben wofür man kämpfen konnte. Gespannt wartete er auf die Antwort des anderen.

[Spook]

Von: utopiansociety42@hotmai l.com
An: elijáhu58@yahoo.co m

Betreff: Re:Demokratie und Atheismus im Spiegel der Nächte

приве́т, אֱלִיָּהוּ,

wenn nur der Aspekt der Funktionalität und der Nützlichkeit zählt, um ein System für "gut" zu befinden - und es gibt natürlich den ein oder anderen Philosophen, der da zustimmen würde - dann müsste ich Dir Recht geben. Ich fürchte, es mangelt mir gewissermaßen an der Fähigkeit, mich mit etwas abzufinden, das nur funktioniert. Vor allem dann nicht, wenn es auf Kosten derer funktioniert, die es angeblich beschützt. Natürlich existiert da ein Schutz, und dennoch ist der Profit derer, denen der Preis dafür zu entrichten ist, immer höher, als der jener, die beschützt werden. Es gibt so ein Modell auch auf der Straße: Da wird jemand angeblich beschützt und muss dafür nur...würdest Du da nicht auch den Preis als zu hoch erachten? Den Bauern im Mittelalter hat man erzählt, sie müssten Steuern zahlen, um beschützt zu werden, während die, denen sie Lebensmittel lieferten, sich komischerweise in deutlich bessere Kleidung hüllten und seltsamerweise auch Zeit für verfeinerte Kultur hatten. Das wurde kurzerhand damit gerechtfertigt, dass Gott es so wolle. Und es gab vor gar nicht so langer Zeit noch Stimmen, die behauptet haben, den Sklaven der Südstaaten sei es viel besser gegangen, als sie noch Besitzer hatten, die auf sie aufpassten. Man kann wirklich jedes System rechtfertigen, wenn man mit Worten gut genug umgehen kann.

Ich stimme dir darin zu, dass die repräsentative Demokratie, die bis vor kurzem hier real vorhanden war, natürlich nicht der Idealzustand war. Sie funktionierte irgendwie, weil sie durch mächtige Geldgeber aus der Wirtschaft korrumpiert war - das ist in den letzten Jahren ja nun mehr als offenkundig geworden. Durch jene mächtigen Geldgeber und die älteren Geheimgesellschaften hinter ihnen, die doch sicherlich ohnehin niemals Interesse an "idealerer" Demokratie hatten und dieser niemals gestattet hätten in ihrem Einflussbereich zu existieren.

Immerhin aber war selbst in dieser nicht idealen Version festgelegt, für wie lange ein Präsident im Amt verweilen kann und wie oft er maximal wiedergewählt werden darf. Und es...gibt...eine Trennung zwischen der Legislative und der tatsächlichen Judikative, bei der nur zu hoffen übrig bleibt, dass sie nicht von der Wirtschaft gesponsert wird. Ich bin mir nicht sicher, aber ich schätze, da besteht doch ein Unterschied zu ihrer Gesellschaft, oder nicht?

Wenn dieser status quo im Übrigen so nützlich ist, dass man ihn bewahren sollte - für wen ist er nützlich? Und für wen nicht?

Was die Frage angeht, wie ich ein Atheist sein kann: Ich fürchte, das ist, trotz allen Hinterfragens, das einzige, was von den Überzeugungen meines alten Ichs übrig geblieben ist. Konfrontiert damit, dass alles, was man mir erzählt hatte, eine Lüge war, blieb mir nichts anderes übrig, als an dieser einen Sache festzuhalten. Hätte ich das als Beweis für Gottes Existenz genommen, wäre die einzige für mich noch konsequente andere Möglichkeit, darauf zu reagieren, eine gewesen, die ich gleichzeitig als äußerst kindisch empfunden hätte und gegenüber der ich die Option, Gott als nicht-existent zu betrachten, bei weitem vorziehe.

Also nein, es ist nicht so, dass ich seine Existenz als möglich erachte und er mir egal ist. Ich glaube nicht an die Existenz eines Gottes, denn wenn ich seine Existenz in Betracht ziehen würde, wäre er mir nicht egal, wenn auch in eher negativer Weise.

https://www.youtube.com/watch?v=4nyJ7P21WcA

С нетерпением жду ответа,
S.

[Elias]

Betreff: Re: Re: Demokratie und Atheismus im Spiegel der Nächte

Die meisten ihrer Argumente kann ich nachvollziehen, einige empfinde ich sogar als überaus Berechtigte Kritik. In mir werden Sie auch kaum einen glühenden Verteidiger dieses Systems vorfinden. Es ist nicht fehlerlos, ganz im Gegenteil. Das sind die Alternativen jedoch auch nicht, im Fall des Schwertes sogar völlig unannehmbar. Sie erinnern sich worin dieses System, diese Organisation wurzelte? Wenn wir uns nun einen Schritt von Utopien, vom Ideal unseres jeweiligen Umfelds lösen, wird doch schnell offensichtlich dass allein schon unsere spezielle Natur eine gute und wahrhaft gerechte Gesellschaft verhindert. Ohne Gesetzte und Struktur wäre ein abgleiten in Barbarei unabwendbar.

Allein, wie ich schon bei unserem Zusammentreffen bemerkte beneide ich Sie, dass Sie für eine Sache kämpfen. Ich jedoch bin gezwungen gegen etwas zu kämpfen. Wer weiß, es gab Phasen in meinem Unleben, da hätten mich Idealismus und Freiheitsdrang vielleicht dorthin geführt wo Sie jetzt stehen. Aber ohne den Schutz, den mir meine Organisation bietet, wäre ich sehr schnell endgültig Tod. Ein Schutz den ihre Bewegung nicht zu bieten vermag.

Wir alle waren einmal Menschen und vieles von dem was wir tun und sind wurzelt darin. Aber bei allem Idealismus, um den ich Sie wirklich beneide, ist es doch so, dass wir zugleich mehr und doch weniger sind als Menschen. Unsere raubtierhafte Art verlangt es nach den verschiedensten Dingen, letztlich aber geht es um Macht. Ob nun Bischof, Prinz oder, ich glaube bei den ihren heißt es Baron, die Unterschiede sind marginal.

Aber ich mag mich irren, mit der Bewegung habe ich mich nie intensiv beschäftigt, da ich ihre Mitglieder nicht als meine Feinde betrachte. Mein Interesse galt bisher immer meinen Feinden und Verbündeten, zumindest in der Hauptsache.

Ich bin Pragmatiker, aber sollte es je eine bessere Gesellschaft unserer Art geben, die im Angesicht der Welt wie sie nun mal ist eine Chance hat... Abgesehen davon halte ich Reformen immer für den geeigneteren Weg eine Gesellschaft zu verändern, als Revolution.

Interessant, ihr Atheismus speist sich aus ähnlichen Erfahrungen und Gedankengängen, wie jene die mich an meinem Glauben festhalten ließen. Ich habe das Gute und Schöne in der Welt gesehen, aber auch das Böse, wenn man so will den Teufel. Die Frage nach dem Warum, warum Gott all die Grausamkeiten zulässt, stellt sich sicherlich, kann aber ihre Antwort im freien Willen jedes Menschen finden. Und wenn man so will auch im freien Willen unserer Art. Vorausgesetzt man glaubt daran.

С нетерпением жду ответа,

E.

[Elias]

Einige Monate später erhielt Spook eine weiter Email vom selben Absender.

Betreff: Erbschaftsangelegenheiten

"Werter Spook,

Es scheint dringend erforderlich, dass wir uns persönlich Treffen. Zum einen besteht Aktualisierungsbedarf was Ihre 'Lizenz zum Spazierengehen' betrifft; aber ich denke die Verantwortlichen werden diese nicht ernsthaft infrage stellen, keine Sorge. Zum anderen, und dies erscheint wesentlich dringlicher, denke ich es wäre in unser beider Interesse uns über den Verbleib Ihres Clansbruders zu unterhalten.

E.