Die Räume dieser ehemaligen Grundschule sind ungeheizt. Dazu noch klamm und verschmutzt. Im nächsten Frühling würden sie wieder nach einer Reinigung vorzeigbar sein, aber aktuell sind sie nur Kältelöcher, außer, man steckt einen Haufen Leute rein, die sich bewegen.
Manche sind hier, weil es warm ist, andere, weil es laut ist, wieder andere, weil es was zu sehen gibt. Ein Mann, der es irgendwie schafft, einen ordentlichen Anzug zu tragen, tanzt mit einer Frau aus der Nachbarschaft einen Tango auf einem kleinen Teppich. Der Teppich umfasst keine zwei Quadratmeter. Die Beschallung übernimmt ein angestoßener Ghettoblaster, bewacht von einem Jungen, der das coole Gehabe der Gangs schon formvollendet beherrscht, aber keine Farben trägt.
Das Lied klingt gerade aus. In der kurzen Stille wird die Frau unsicher, sie macht einen Zirkelschritt und tritt neben den Teppich, was mit großem Gejohle der Umstehenden quittiert wird. Der Tänzer entschuldigt sich bei seiner Partnerin und sie treten vom Teppich herunter.
Mit einer einladender Geste lädt der Tänzer ein anderes Paar ein, einen der ausliegenden Teppiche zu nutzen, einige Frauen scheinen auch interessiert daran, aber die Herren der Schöpfung zieren sich noch bzw. sind viel zu cool, vor allen Spaß zu haben. Normalerweise sind hier auch ältere Leute dabei, aber irgendwie hat es heute Nacht niemand von ihnen hierher geschafft.
"Benny, Sie haben am lautesten gelacht. WIe siehts aus, schaffen Sie zwei volle Lieder auf dem Teppich?"
"Hey, buddy, mit wem denn? Welche Frau traut sich denn an den Fetten Benny ran? Der fällt noch auf sie drauf und dann isse doch platt.", ruft ein anderer der Umstehenden in die Runde, was zu weiterem Gelächter, auch von Benny, führt. Er hat es tatsächlich geschafft, sich hier eine beachtliche Körperfülle anzueignen, aber was hier als fett gilt würde außerhalb der Slums vielleicht etwas anders beurteilt werden.
"Außerdem hat neben ihm doch keiner auf dem Teppich Platz!", kommt es aus einer anderen Ecke.
"Na, wenn das so ist, warum stellen Sie sich nicht zur Verfügung, Slim?"
"Hömma, das is' unanständig, zwei Männer machen sowas nicht.", kommt es von Slim, der gerade Zielscheibe wird. In kurzer Folge werden ihm von der Runde Mangel an Männlichkeit, Tanzfähigkeit und Mumm unterstellt.
"Das stimmt nicht. Kommen Sie, ich zeige Ihnen was. Kommen Sie, na los.", Rafael stellt sich alleine auf den Teppich und winkt Slim zu sich. Es wird leise, Spannung und Unglauben mischen sich auf den Gesichtern in der Runde. Slim ist sich nicht sicher, wie er reagieren soll und lacht erstmal, aber das Winken wird nachdrücklicher. Bevor ihm vorgeworfen wird, ein Drückeberger zu sein, begibt er sich zum Teppich, aber stellt noch keinen Fuß drauf. Er ist eine dürre Bohnenstange, aber groß genug, den Anzugträger auf dem Teppich um einen halben Kopf zu überragen.
"Nun, das sieht passend aus. Slim, Sie können das doch schon, ich überlasse Ihnen die Führung, kommen Sie."
Den rechten Arm ausgestreckt erwartet der kleinere Tänzer den größeren. Druck aufbauen ist einfach in so einer Runde, die Anfeuerungsrufe sind zwar ein bisschen saftig, aber sie sind hier üblich. Während er wartet, freut er sich schon auf die Frühlingstänze, wenn die Nächte lauer werden und die Teppiche, manchmal auch nur Planen, ausgelegt werden.
Das hier sind die Slums, Hunger oder Mord sind an der Tagesordnung hier. Aber seit drei Jahren gibt es hier im Viertel die Teppichtänzer und er bildet sich ein, dass es den Leuten gut tut. Victor hatte ihn damals für verrückt erklärt, aber nach den ersten Monaten ist er leiser geworden. Farbe an den Hauswänden, das wäre vielleicht das nächste. Wenn sich die Leute hier einrichten, sind sie auch von ihrem Elend ein bisschen mehr abgelenkt. Das hier ist ja keine Strafkolonie, die meisten Leute hatten einfach nur das Pech, hier nicht weg zu kommen. Und noch immer gibt es eine ganze Menge Einwohner, bei denen Alice noch nicht ausgebrochen ist.
Slim fasst sich ein Herz und kommt auf den Teppich, etwas linkisch, aber tatsächlich will er es versuchen. Sie testen kurz die Grenzen des Teppichs ab, dann kommt das Nicken des Größeren und der Junge am Ghettoblaster startet das nächste Lied, die Milonga kann weitergehen.