by Clara de Vries » 30 Nov 2015, 21:00
Still war es geworden. Beinahe totenstill, als sich die ganze Wut, Trauer, der Schmerz und all die jahrelang bemüht unterdrückten Gefühle, ihren Weg an die Oberfläche kämpften und in dem dünnen, verräterischen Rinnsal einer blutigen Träne mündete, welche die Wangen ihrer Gesprächspartnerin benetzte um dort einen schmalen, zerlaufenen Strich zu hinterlassen. Beinahe wie kunstvoll aufgetragenes Make-up aber bei Weitem symbolischer und ohne die Möglichkeit ihre Empfindungen dahinter verstecken zu können. Ihr Herz schien zu bluten, selbst nach sieben langen Jahren.
Clara bemühte sich ruhig und gefasst zu bleiben, während die Frau an ihrer Seite, all diesen inneren Kummer in beinahe schon abwertender und anklagender Form gegen sie richtete. Es klang laut, es klang verzweifelt und furchtbar wütend, was nicht zuletzt dazu führte das sie sich schon ein wenig wegzuducken schien, als all der giftige Zorn sich mit einem brüllenden Schrei über ihr entlud. Sie waren keine Freunde, sie kannten sich nicht einmal und es stand überhaupt im Raum, was Clara sich da herauszunehmen gedachte. Zuneigung und ehrliches Mitgefühl gab es nicht, alles diente nur einem persönlichen egoistischen Zweck. Nichts war wahrhaftig, alles nur gespielt und verletzend. So oder so ähnlich lautete die Anklage der hübschen Frau mit den grünen Augen auf der Parkbank neben ihr, deren gellende Stimme für sie mehr der Ausdruck tiefer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit war als sie mit brachialer Intensität über die einstige, idyllische Stille des Parks hinwegfegte. Ein Versuch all dies von sich zu stoßen oder ungeschehen machen zu können, es rückgängig werden zu lassen, vergessen zu können um es tief in sich zu vergraben und nie wieder spüren zu müssen. Damit es aufhörte, damit es endlich aufhörte…
All diese kleinen Anschuldigungen hätten sie verletzen oder mit Angst erfüllen können. Man hätte es als persönlichen Angriff auffassen oder als heftige Ablehnungen der eigenen Personen bewerten können und manch einer, hätte wohl nach entschuldigende Worten oder beruhigenden Floskeln gesucht, um diese spannungsgeladene Situation ein Stück weit zu entlasten oder weniger bedrohlich wirken zu lassen. Clara hätte auch einfach aufstehen und gehen können, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, denn auch wenn Gefühlsausbrüche sehr energisch werden konnten, bestand doch gerade bei ihrer Art eine tatsächlich vorhandene Gefahr für Leib und Unleben, die man keinesfalls unterschätzen durfte.
Aber sie blieb, wenngleich sich in ihrem Blick dennoch eine kurzweilige Verunsicherung widerspiegeln mochte. Sie blieb, als man ihr eigennützige Ziele mit ihrem ‚gespielten’ Mitgefühl unterstellte und sie blieb als man sie vehement und lautstark dazu aufforderte, doch endlich ruhig zu sein. Sie war nach wie vor da und zeigte Interesse, nahm Anteil an der Trauer ihres Gegenübers. Sie war das Objekt des Hasses, an dem man sich abarbeiten konnte und sie war die wache Zuhörerin die anwesend war, wenn alle anderen sich längst irritiert abgewandt hatten. Einfach weil die Frau neben ihr, die soeben ein Seidentüchlein gezückt hatte um ihre blutigen Tränen eilig zu trocknen all diese Möglichkeiten zur Trauerbewältigung brauchte und sie sich dafür bereitwillig zur Verfügung stellte. Weil sie es aushalten konnte und nicht davonlief oder Nase rümpfend den Blick abwandte. Weil sonst niemand da war…
„Sie müssen sich nicht entschuldigen, es ist doch ganz natürlich das diese Beziehung, die meiner Einschätzung nach noch nie wirklich aufgearbeitet wurde, nach wie vor heftige Gefühle bei ihnen auslöst. Das ist nur natürlich und es wäre im Gegenteil eher bedenklich, wenn sie völlig emotionslos darüber berichten würde. Als ob es sich nur um eine Anhäufung von Begegnungen handeln würde, die man bestenfalls noch mit ein paar Fußnoten versieht.“ Sie schenkte ihr ein warmes, grundehrliches und aufmunterndes Lächeln und lehnte sich sichtlich entspannter, etwas auf der Parkbank zurück.
„Denn wäre das der Fall, dann hätten alle ihre Bedenken bezüglich unserer Art darin Bestätigung gefunden. Sie trauern, sie weinen, sie sind verletzt und einsam. Ich bin aber der festen Überzeugung, das dies genau die Dinge sind, die uns von dem monströsen und bösartigen Bild das sie von unserer Art zeichnen, unterscheidet. Wir sind keine leere Hülle die es nach Blut giert sondern Individuen mit Hoffnungen, Wünschen, Ängsten, Sorgen und Nöten. Wenn wir das nicht mehr haben, was sind wir dann noch?“ Offensichtlich stellte sie damit eine rein rhetorische Frage, die sie nicht wirklich beantwortet wissen wollte.
Ihr Lächeln wurde noch eine Spur breiter und sympathischer, als sie der Fremden neben sich aufmerksam zuhörte, als diese von ihrer Schwester berichtete. Clara unterbrach sie kein einziges Mal und nicht einen Moment lang bekam man das Gefühl, die attraktive Frau mit den dunkelbraunen Haaren, würde ihre Erzählungen auf irgendeine Art und Weise bewerten oder beurteilen. Hin und wieder grinste sie regelrecht amüsiert und kicherte gar, als ihr von der schrecklichen Kleiderwahl und der quirlig-kindlichen Art der liebgewonnen Schwester berichtet wurde. Ihre Augen glänzten und sie schmunzelte nickend, als sie allem Augenschein nach einen guten Eindruck gewonnen hatte.
„Vielen Dank dass sie mir von ihrer liebenswerten Schwester erzählt haben. Mir ist klar, dass dies für gewöhnlich nichts ist, das man mit völlig Fremden teilt und es ist ihnen verständlicherweise nicht leicht gefallen. Ich möchte ihnen überdies auch für das in mich gesetzte Vertrauen danken und verspreche ihnen, die Geschichte ihrer Schwester mit allem nötigen Respekt und der damit verbundenen Wertschätzung zu behandeln, die sie verdient.“ Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und nickte dabei langsam und bedächtig, ihr Lächeln nach wie vor ungebrochen.
„Ja, ich glaube ich habe einen guten Eindruck von ihrer Schwester gewonnen und so wie ich sie mir vorstelle und vor Augen habe, kann ich sehr gut nachvollziehen warum sie ihnen so wichtig war.“ Ihre Augen öffneten sich und mit der leichten Bewegung ihres Kopfes, wandte sie sich wieder der neben ihr sitzenden, noch immer etwas geknickt wirkenden, Dame zu.
„Vielleicht mag sie in manchen Situationen ein wenig unbeholfen oder unsicher, gar völlig fehl am Platz gewirkt haben aber ich denke sie war der Inbegriff dessen, was man sich im Grunde für sich selbst wünscht. All die kleinen, verborgenen Persönlichkeitsanteile, die ebenfalls ihren Platz in unserem Sein beanspruchen und gepflegt werden wollen, die wir aber oft gezwungenermaßen unterdrücken, verstoßen und mit eiserner Disziplin im Zaume halten. Ihre Schwester hat gelacht wenn ihr danach war, geflucht wenn sie wollte und sich nicht daran gestört, wie manche Institutionen sie aufgrund ihres exzentrischen Kleidungsstils verurteilten oder wie manch einer die Nase rümpfte, wenn sie sich nicht der Rolle die ihr zugedacht war verhielt.“ Sie nickte leicht sehnsuchtsvoll.
„Im Grunde hat sie ihr Leben ohne gesellschaftliche oder persönliche Zwänge geführt und ich glaube, das bringt gerade im Hinblick auf unsere niemals endende Existenz eine große Erleichterung und Lebensfreude. Wir müssen nicht perfekt sein oder gefallen. Wir müssen uns nicht sklavisch an selbst auferlegte Regeln halten, die wir im Grunde unserer Überzeugungen verneinen. Wir dürfen schlecht gelaunt, schrecklich angezogen, widerlich, unansehnlich, dumm und ganz und gar unvollkommen sein ohne bewertet und evaluiert, katalogisiert und eingeordnet zu werden.“ Clara sah ihr Gegenüber mit leuchtenden Augen an.
„Und wir sind es trotzdem immer wert geliebt zu werden, mit allem was wir sind. Denn genau das ist es, was uns schlussendlich ausmacht. Das ist unser Charakter, unsere Persönlichkeit und unsere Freiheit, das sind wir. Und egal was man uns erzählen mag oder welche individuellen Wertevorstellungen man vertritt: Genau das und nur das ist es, was schlussendlich übrig bleibt, wenn all die Rollen, Masken und einstudierten Worte von uns abfallen und wir uns nackt und bloß gegenüber stehen. Und das ist meiner tiefsten Überzeugung nach, auch wenn wir es oft vergessen oder nicht wahrhaben wollen, das eigentliche Maß aller Dinge.“
Die hübsche Frau in ihrer modernen aber wenig auffälligen Bekleidung, ließ langsam ihre ausgestreckte Hand in Richtung ihrer Sitznachbarin gleiten um sich vorzustellen. Sollte diese die angebotene Hand ergreifen, so wäre diese erwartungsgemäß eisig kalt. Ihr Händedruck schien sanft und möglicherweise sogar eine Spur zu sanft, als sie ihr freundlich zulächelte.
„Clara de Vries vom Clan der Rose aber nennen sie mich einfach Clara. Es freut mich sehr ihre Bekanntschaft machen zu dürfen Miss…?“ Sie gab ihr den Raum und die Möglichkeit, die höfliche Vorstellung in ihrem eigenen Ermessen zu erwidern.
"In order for the light to shine so brightly, the darkness must be present."
~Francis Bacon~